gung riß ihn nun Ploderls Meldung, daß das Ofentürl des Wartesaales dritter Klasse kaputt sei. Dominik Wurzer besah sich eingehend den beschädigten Gegen¬ stand, begab sich hierauf mit Ploderl in den eiskalten Wartesaal und überzeugte sich von der feststehenden Tatsache, daß der Ofen derzeit nicht heizbar sei. Dann gab er dem Stationsarbeiter den Auftrag, unverweilt die zwei anderen Oefen zu betreuen und begab sich fröstelnd in die Verkehrskanzlei zurück. Das Ofentürl nahm er mit sich und legte es vorerst neben sich auf einen Stuhl. Dominik Wurzer war erregt. Er, der drei Fachprüfungen mit sehr gutem Erfolg abgelegt hatte, 72 Instruktionen und 412 Dienstanweisungen fast aus¬ wendig konnte, er, der Eisenbahngeographie, Feuerlöschordnung und Signal¬ vorschriften geradezu lückenlos beherrschte, er wußte dermalen tatsächlich nicht, was in diesem konkreten Fall zu geschehen habe. Der Vorsicht halber durch¬ blätterte er sorgsam die einschlägigen Vorschriften, fand aber keine Bestimmung, die beim Unbrauchbarwerden von Stationsöfen hätte sinngemäß Anwendung finden können. So blieb dem guten Fahrdienstleiter nichts anderes übrig, als in Hinsicht auf die Dringlichkeit des Falles den Vorstand Karl Emmentaler zu wecken. Zu diesem Behufe nahm er den Stationsbesen und begann mit dessen Spitze inten¬ siv gegen die Decke der Verkehrskanzlei zu stoßen. Obwohl er nun in seiner begreiflichen Erregung zustieß, daß der Mörtel in Gießbächen herabschoß und die Spitze des Besens zehn Zentimeter in den Plafond eindrang, rührte sich vorerst eine halbe Stunde gar nichts. Dann aber verriet dumpfes Gepolter in der Dienstwohnung des Vorstandes, daß dieser erwacht sei und sich ankleide. Vorstand Emmentaler erschien denn auch endlich mangelhaft bekleidet in der Verkehrskanzlei und fragte den Fahrdienstleiter in nicht gerade gemütlichem Ton, was zum Teufel ihn bewogen habe, seine Nachtruhe zu stören. Wurzer erstattete seine Meldung und wies das zerbrochene Ofentürl vor. Als der Vorstand im Bilde war, erklärte er zuerst wütend, er werde sich gleich morgen bei der Direktion beschweren, daß man ihm bereits durch viele Jahre alle Kretins, Idioten und unheilbar Blödsinnigen zur Einschulung zuweise, ließ sich aber dann durch reumütige Zerknirschung seines Untergebenen besänftigen und gab diesem den Auftrag, sofort in einem Dienstschreiben an die Verkehrs¬ abteilung dieser den Vorfall zu melden und die Beistellung eines neuen Ofen¬ türs, allgemeine Form 204, Muster 5, zu verlangen. Dann begab er sich wieder zu Bett. Dominik Wurzer suchte also vorerst nach einem Dienstschreiben, konnte aber erst nach geraumer Zeit einige Exemplare dieser Drucksorte in der Hut¬ schachtel des Vorstandes auffinden, worauf er das Schreiben ausfertigte. Mitt¬ lerweile war es licht geworden, die ersten Reisenden, die zum Frühzug wollten, fanden sich nach und nach ein und bald vernahm Wurzer die Entrüstungsschreie Frierender aus dem ungeheizten Wartesaal. Das Dienstschreiben ging zuerst als Irrläufer zur Bezirkshauptmannschaft Eisenstadt im Burgenland, kam aber dennoch am siebenten Tage nach der Ab¬ endung zur kompetenten Direktion. Dort geriet es durch einen unglücklichen Zufall zuerst in den Präsidial¬ einlauf, dann in die Bahnagendenpost, wanderte indessen trotzdem langsam, aber sicher auf den Tisch des zuständigen Fachbeamten der Abteilung für den Ver¬ kehrsdienst. Als Gruppenleiter Rosenschein die Zuschrift durchgelesen hatte, tat er sie zunächst in einen umfangreichen Faszikel, worauf er sich zwecks einer längeren Skitour ins Engadin begab. As er nach drei Wochen wieder heimkehrte, fand er auf seinem Schreibtisch sechs Urgenzen, die alle in dem Sehnsuchtsschrei nach einem neuen Ofentürl gipfelten. Im vierten Urgenzschreiben meldete die Sta¬ tion Elendshausen=Pimpfdorf, daß die zweiundsiebzigjährige Kanzlistenswitwe Leonore Kränklich in der Nacht vom 6. zum 7. Jänner im Wartesaal dritter Klasse erfroren aufgefunden worden sei. 81. 6
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