Schlangenmühle. Auf ihrer Mauer war der wilde Mann abgebildet. Nur mit einem Eichenkranz um die Stirn und einem noch größeren umdie gewaltigen Hüften bekleidet, und mit einem ausgerissenen Baum bewehrt, zer¬ trat er einen Knäuel emporzischender Schlangen mit mächtigen Füßen. Herr¬ gott, wenn der Wilde einmal lebendig würde, etwa im Abendgrauen, und hin¬ unter auf die Straße stiege, das wäre doch kein Spaß. Das böse Anneli war verwundert und erfreut, daß die Buben einmal zu ihr kamen, und strich uns die Butter dick auf die Brote. Da erwog ich, ob es nicht klüger wäre, ihr die nagende Frage wegen des mangelnden Fran¬ kens anzuvertrauen, als sich mit den unzureichenden Mitteln aufs Geratewohl zu dem Bildkünstler zu begeben, den wir nicht kannten. Die Brüder erbebten, als ich der doch stets mit Mißtrauen betrachtete Verwandten unser Geheim¬ nis verriet, sie aber war davon gerührt, daß sie uns nicht nur den Franken schenkte, sondern auch den großen, schwarzseidenen Krinolinenrock anzog und uns selber zu Peter Stephan führte. Die erleichterten jungen Seelen aber be¬ griffen nicht mehr, warum man die freundliche Base das „böse Annelie“ nannte. Beim Photographieren ging es, wie es geht. Der mit einem schwarzen Tuch verhängte Kasten auf drei Holzbeinen erweckte Mißtrauen, aber der ge¬ mütliche Peter Stephan wußte, wie man zaghaften Landknaben Mut ein¬ flößt. Als er uns vor einer Leinwand hinreihte, auf der eine Stadt am Meer mit Palmen abgebildet war, und eine hölzerne Balustrade vor uns hinstellte, flüsterte Heinrich: „Donnerwetter, das wird nobel!“ Emil aber seufzte: „Zu nobel, wir vermögen das Bild gewiß nicht!“ Indessen stand der Photograph — 7 22 — — 2% 5— 74 4 22 ( 00 O 1 2 2 S12A S. 14 1 M ∆ S † San##:— vergnüglich am Apparat, hantierte und rief: „So jetzt ihr Buben, bitte recht freundlich!“ In diesem Augenblick aber fiel mir ein: Nein, ein so wichtiges Bild muß ernst sein und, indem ich an den Gemeindeammann dachte, der mir hatte den Büttel auf den Hals schicken wollen, zwang ich mein Gesicht zum bit¬ tersten Ausdruck: „Eins — zwei — drei!“ Nach einer Weile lächelte Stephan: „So jetzt sind wir fertig, es wird ein wunderbares Bild.“ „Und es ist nicht einmal ein Kanonenschuß losgegangen“, schrie Emil erlöst. In einer Stunde schon konnten wir das Konterfei abholen, wohlgeraten unter Glas. Des Entzückens war kein Ende besonders nicht, als unser Geld langte, Stephan zu bezahlen. Mit mutig geballten Fäusten brachten wir das Bild an dem wilden Mann der Schlangenmühle vorbei und machten aus, daß es einer nach dem anderen abwechselnd immer drei Pappeln weit tragen dürfe. Dem Jüngsten als dem Unverdächtigsten, wurde die Ehre zuteil, es ins Haus zu schmuggeln und in einem Obsttrog auf dem Dachboden unter den Examen¬ heften unserer Urgroßeltern zu verstecken. Unzählige Male in den Tagen vor 68
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