Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1951

Erst gegen Morgen schlief ich ein und träumte von einer roten Maus, die allen Heiligen der Kirche die rechte Hand abgebissen habe. Und zum Turm¬ fenster sah mein Vater mit den eingeseiften, schiefen Backen heraus und er hielt einen brennenden Span im Mund; ich schluchzte und kicherte zugleich und hatte heiße Angst. Als ich endlich erwachte, meinte ich, ich wäre in einem Käfig mit silbernen Spangen, so strahlte das weiße Tageslicht durch die aufrechten Bretterfugen. Und als ich hinausging vor die Tür des Hauses, da staunte ich, wie eng die Schluchtwand, wie fremd und hoch und winterlich die Berge waren. Im Hause schrie das Kind und jauchzte wieder die Drachenbinderin. Bei der Frühsuppe war auch mein Gaul wieder da; aber er sagte schier kein Wort, er sah nur auf sein Essen, und als dieses gar war, stand er auf, setzte seinen großmächtigen Hut auf und ging gegen Stanz hinaus zur Kirche. Als das Weib das Kind beruhigt, die Hühner gefüttert und andere Dinge des Hauses getan hatte, schob es den Holzriegel vor die äußere Tür, ging in die Kammer und hub mit den kleinen Glocken des Kirchleins zu läuten an. Dann entzündete sie zwei Kerzen, die am Altare standen, und dann tat sie ein Gebet, wie ich meiner Tage kein ergreifenderes gehört habe. Sie kniete vor dem Kirchlein, streckte die Hände aus und murmelte: „Von wegen der Marter¬ wunden deiner rechten Hand, du kreuzsterbender Heiland, tu meine verstor¬ benen Eltern erretten, wenn sie noch in der Pein sind. Von wegen der Marter¬ wunden deiner linken Hand laß dir empfohlen sein meiner Tochter Seel'. Von wegen der Marterwunden deines rechten Fußes will ich dich bitten wohl im Herzen für meinen Mann und für meine Blutsfreund und Guttäter und daß du des Waldbauernbuben nicht wolltest vergessen. Von wegen der Marter¬ wunden deines linken Fußes, du kreuzsterbender Heiland, sei auch eingedenk in Lieb' und Gnaden all' meiner Feinde, die mich mit Händen haben geschlagen und mit Füßen haben getreten. Von wegen der Marterwunden deines heiligen Herzens sei zu tausend= und tausendmal angerufen: du gekreuzigter Gott, schließe mein Enkelkind in dein göttliches Herz. Sein Vater ist bei den Soldaten im weiten Feld, ich hab' 'leicht kein langes Verbleiben, du mußt dem Kind ein Vormund sein, ich bitte dich ...! So hatte sie gebetet. Die roten Kerzen brannten so fromm. Nach einer Weile sagte das Weib: „Jetzt heben wir zu schreiben an. Aber wir wollten zu schreiben anheben, da war keine Tinte, keine Feder und kein Papier. Alle miteinander hatten wir darauf vergessen. Die Alte stützte ihren Kopf auf die flache Hand und murmelte: „Das ist schon ein Elend!“ Ich hatte einmal das Geschichtchen gehört von jenem Doktor, der in Er¬ mangelung der Dinge sein Rezept an die Stubentür geschrieben. 's war hier der Nachahmung wert; fand sich aber keine Kreide im Haus. Ich wußte mir keinen Rat und ich schämte mich unsagbar, daß ich ein Schreiber ohne Feder war. „Waldbauernbub“ sagte das Weib plötzlich, „'leicht hast du's auch mit Kohlen gelernt?“ Ja, ja, mit Kohlen, wie sie auf dem Herde lagen, das war ein Mittel. „Und das ist in Gottesnamen mein Papierblatt“, versetzte sie und hob die Decke eines alten Schranks empor, der hinter dem Ofen stand. In dem Schranke waren Lodenschnitzel, ein Stück Linnen und ein rostiger Spaten. Als die Drachenbinderin bemerkte, daß ich auf den Spaten blickte, wurde sie völlig verlegen, deckte ihr altes Gesicht mit der braunen Schürze und murmelte: 's ist doch eine Schande!“ Mir fuhr's ins Herz; ich hielt das für einen Vorwurf, daß ich kein Schreibzeug bei mir habe. „Wirst mich rechtschaffen auslachen, Wald¬ bauernbub!“ lispelte die Alte, „aber tu ja nichts Schlechtes von mir denken: ich kann halt nicht mehr, ich bin schon gar so viel ein mühseliger Mensch! Jetzt verstand ich vielleicht, das arme Weib schämte sich, daß es den Spaten nicht mehr handhaben konnte und daß dieser also rostig geworden. 60

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