Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1950

Er fuhr auf und schüttelte den Kopf, als wollte er die quälenden Ge¬ danken verjagen. „Ja, er war hier. Du schliefst und da ging ich mit ihm bis zur Gartentür. Seine Rede hat mich getröstet in diesen Tagen der Heim¬ uchung. Er ermahnte mich, den Kopf hochzuhalten und sah mich dabei mit einen milden Augen so teilnehmend an, daß es mir so ordentlich licht ums Herz wurde. Diesmal führte ihn noch etwas Besonderes zu mir, er hatte ein Anliegen. „Sol Darf ich's wissen?“ „O, sicher! Du weißt, daß er Verse macht. Diesmal ist ihm etwas beson¬ Schönes gelungen. Es heißt: Die heilige Nacht. Und ich soll die Musik ders dazu machen.“ wie schön das klingt! Lies es mir doch vor!“ — „Die heilige Nacht Gruber entfaltete ein Papier und las: „Stille Nacht, heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht Nur das traute, hochheilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar, Schlaf' in himmlischer Ruh'!“ „Wie schön, Franz! Wie es mich merkwürdig ergreift. Alles schläft! Nur unserem Liebling. Und schau, gleicht er mit seinem wir zwei wachen bei Krippenkindlein?“ Goldhaar nicht dem iebreiz und Unschuld sind die Verkörperung eines lieblichen „Ja, Maria! Li sagte der Lehrer gerührt. „Doch hör' weiter: Gottesgedankens“ Stille Nacht, heilige Nacht, Die der Welt Heil gebracht, Höh'n Aus des Himmels goldenen Uns der Gnaden Fülle läßt seh'n: Christ in Menschengestalt. Zuhören nicht, mein Weib, ich könnte dir ja die an¬ Ermüdet dich das vorlesen.“ deren Verse am Tage jetzt!“ lispelte die Kranke und der Mann las weiter: „Nein, tu's gleich „Stille Nacht, heilige Nacht, Hirten erst kund gemacht. Durch der Engel Hallelujah Tönt es laut von fern und nah: Christ, der Retter, ist da! Stille Nacht, heilige Nacht! Gottes Sohn, o wie lacht Lieb' aus deinem göttlichen Mund, Da uns schlägt die rettende Stund', Christ, in deiner Geburt! Die Frau hatte die Hände gefaltet. Still und bedeutungsvoll wiederholte sie: „Da uns schlägt die rettende Stund'!“ Gruber stand auf und trat ans Fenster; er blickte in den grauenden Tag hinaus, der mühsam mit der un¬ freundlichen Nacht um die Herrschaft rang. Wolkenfetzen jagten seltsam ge¬ formt wie nächtliche Ungeheuer dahin. Tiefe Stille folgte den letzten Worten der Leidenden. „Die rettende Stund', wann schlägt sie uns Armen, die wir in der düste¬ ren Nacht des Elends seufzen?“ unterbrach der Lehrer das Schweigen. „Not und Bedrängnis pochen unausgesetzt an unsere Tür und selbst der Arzt will nicht mehr zu dir kommen, weil er für seine Bezahlung fürchtet... Los des 84

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