Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1950

Ein Weihnachtslied Das war eine stürmische, rabendunkle Nacht Ende Oktober 1818. Kläglich heulte der Wind um das armselige Schulhaus zu Arnsdorf im Salzburgischen und peitschte schwere Regentropfen gegen die kleinen, an schadhaften Stellen mit Papier verklebten Fensterscheiben. Letzte dürre Herbstblätter rüttelte er von den Bäumen und die Schindeln des Daches, aufgestört aus träger Ruhe, ächzten, knackten, klapperten und wurden von dem tollen Wirbel erfaßt. Das Todeswehen des Winters fegte über die Erde. Zeitweilig schien sich des Stur¬ mes Macht erschöpft zu haben; aber gleich darauf fing er wieder sein uraltes Lied zu pfeifen an, müden Schläfern zum Verdruß. In einer Stube des Schulhauses brannte, mühselig flackernd, trübes Licht, ein mit Rapsöl gefülltes Lämplein mit der obenauf schwimmenden Seele. Unsicher huschte der Schein über die abgezehrten Züge eines Weibes das im Bette lag. Ein lockiges Kind schlummerte friedlich an der Mutter Seite und hielt sie mit einem Arm umschlungen. Auf einem Holzsessel aber, dessen Lehne nach ländlichem Brauche ein zierlich ausgeschnittenes Herz aufwies, saß ein Mann in den Dreißigerjahren mit ehrlichem, ernstem Gesichte, das schon die ersten Sorgenrisse durchfurchten und dem man die Spuren durchwachter Nächte ablesen konnte. Es war der Lehrer und Organist des Ortes, Franz Gruber. Die Frau, die seit länger als einer Stunde die Augen geschlossen und die Hände gefaltet hatte, machte eine Bewegung und weckte hiedurch den Sinner aus seinen trüben Gedanken. „Wie ist mir heute so wohl zumute, Franz“, hauchte sie leise. „Mir ist wohl wie seit langer Zeit nicht mehr. Wäre ich nur nicht gar so entkräftet! Wenn ich die Hand emporhebe, fällt sie gleich wieder kraftlos herab. Ich merk' es, daßdie Seele nicht mehr lange in dem zerfallenen Haus wird wohnen wollen. Undich möchte doch so gerne leben, für dich und das Kind!“ Der Mann unterdrückte einen Seufzer, wandte sich zur Seite und wischte den Fingerspitzen über die geröteten, feucht schimmernden Augen. mit „Sei nicht traurig, Franz, und geh' wenigstens ein halbes Stündlein zur Ruh'; mußt ja wieder bei der Frühmesse Orgel spielen und nachher Kinder unterrichten. Der Lehrer rückte den Sessel ganz nahe zum Bett hin und ergriff die abgezehrte Hand seines Weibes. „Es geht schon noch ein gut Weilchen bei mir“ sprach er matt; „ich bin ja sonst gesund. Könnte ich nur dir einen Teil meiner Kräfte und meiner Gesundheit abtreten, arme Maria! So viele harte Jahre hast du Lust und Leid eines weltfernen Lehrerlebens mit mir geteilt und warst der Sonnen¬ schein meines bisherigen Lebens.“ Tief ergriffen hatte die Kranke gelauscht. „Ich hoffe, daß sich unser Los noch zum besten wenden wird. Wenn nur erst der Winter vorüber wäre; das Frühjahr wird mir mit seiner Wunderkraft vielleicht neues Leben einhauchen. Eine Weile schwiegen sie beide. Grubers Stirne zog sich in düstere Falten. Seine Lippen preßten sich fest aneinander, wie um eine herbe Anklage gegen sein Schicksal zu unterdrücken. Da fragte die Kranke: „Gestern war doch #77 Pfarrer Mohr bei dir? 83

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