Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1950

Schneider mit einem Maße messen! Es ist viel verlangt. Ja, meine liebe Waldbäurin, und was die Hauptsach' ist: Kopf muß einer haben! Was der Schöpfer an einem krummen, buckligen, einseitigen Menschenkinde verdorben hat, das soll der Schneider wieder gutmachen. Die Leute verlangen von ihren Kleidern nicht allein, daß sie den Adam zudecken, sondern auch, daß sie eine saubere Gestalt herstellen. Und der Schneider muß nicht allein den Körper seines Kunden, er muß auch seinen Charakter kennen lernen, muß sozusagen das ganze Wesen erfassen, um ihm ein Kleid zu geben, welches paßt! Und wie er den Menschen kennen muß, den er nach außen hin vollendet, so muß er den Stoff kennen, von dem er den Anzug zu verfertigen hat. Manches Tuch dehnt sich, manches kriecht zusammen, dieses hält Farbe, das andere schießt ab. Wer das im vorhinein nicht weiß, der macht ein Unding zusammen. der Kleidermacher muß Menschen= und Weltkenner sein. Ja, meine Kurz, Waldbäurin, ein Kleberer tut's sicherlich nicht.“ gute „Ist aber sonst ausbündig (intelligent), der Bub“, wagte meine Mutter zu bemerken. „Macht er ein bissel Figur?“ „Lang gewachsen wär' er just eben genug, aber so viel g'füg (dünn, schlank), so viel ein g'füg Bürschel. „Na“, versetzte der Meister, „werde ihn halt einmal anschauen. Nächst' Erchtagt) soll er zum Alpelhofer kommen; dort wird er mich finden. „Bitt' gar schön, wenn' es tät. Bitt' gar schön!“ „Wird sich schon weisen. Behüt' Gott, Waldbäuerin!“ So bin ich denn nächsten Erchtag in heller Morgenfrüh zum Alpelhofer gegangen. Lange stand ich auf dem Antrittstein der Haustür und dachte: Wie wird es sein, wenn ich wieder heraustrete? Eine fast feierliche Stimmung lag um das Haus, welches auf dem Berge zwischen Eschen und Linden stand, und in welchem die Entscheidung meines Lebens saß. Sie saß am großen Tische, saß in Gestalt eines kleinen, feinen Männ¬ leins im schwarzen Anzuge und sehr weißer Wäsche: ein Männlein mit fein¬ rasiertem Gesichte und einer Glatze, die gerade so groß war, daß sie dieses Gesicht recht offen und würdig gestaltete. Das war der Meister. Er war ein Hagestolz') und lebte ganz allein in einem Berghäuschen, wo er für sich selbst kochte und sich pflegte, oder er arbeitete in irgendeinem Bauernhause der Ge¬ gend, und war so im Laufe des Jahres in vierzig oder fünfzig Bauernhäusern daheim. Ziemlich weit ab, in der Fischbacher Pfarre, hatte er seine alte Mutter, die er jährlich mehrmals besuchte und ihr Geld brachte. In guten Zeiten hielt er sich einen Gesellen, oft auch einen Lehrjungen; als aber die Gewerbefreiheit aufkam, wollte jeder Geselle selbst Meister sein und mein — so hieß er — saß allein und bewältigte seine Arbeit guter Meister Naz Nun, da ich in die Stube trat, saß er am Tisch und nähte. Vor ihm allein. lag das Handwerkszeug, daneben zugeschnittenes Lodentuch und an der Sitz¬ bank hing das Bügeleisen „Gelobt sei Jesus Christus“, flüsterte ich. „In Ewigkeit“, antwortete er mit milder, sonorer Stimme. Ich blieb an der Tür stehen. Es war alles still. Er zog die Nadel auf nieder; nur die Wanduhr tickte und mein Herz pochte dem Augenblicke und entgegen. „Was willst denn?“ fragte mich nach einer Weile der Meister. „Schneider werden möcht' ich halt gern“ antwortete ich zagend. „So, bist du derselbe“, sagte er und blickte eine Weile auf mich her. „In Gottes Namen, geh's an. Setz' dich her, nimm Nadel und Zwirn und 1) Dienstag. 2) Unverheiratet gebliebener Mann. 76

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