Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1949

unheimlich lange Fahrt durch den Arlbergtunnel, der weltweite Blick vom Gebhartsberg in Bregenz auf See und Gebirge, das liebliche Eiland Lindau, die Seefahrt nach Konstanz, und auf der Rückreise dann noch Innsbruck und Salzburg.. Keiner meiner Schulkameraden hatte derartiges erlebt, waren doch die meisten kaum über das Weichbild der Stadt hinausgekommen. Wie stolz war ich daher auf diese, für mein kindliches Gemüt so weite Reise. Ich hätte davon am liebsten jedem erzählt, wenn ich nicht zu scheu und verschlossen gewesen wäre, um damit zu prunken. Das trat kurz darauf auch ein, aber auf eine für mich recht unliebsame Weise. Im vierten Jahrgang der Mittelschule, den ich nach jenen für mich so köst¬ lichen Ferien zu besuchen anfing, unterrichtete uns Knaben in deutscher Unter¬ richtssprache ein frischgebackener Professor, der eben die Universität verlassen hatte. Jung, hager, energisch und noch ganz erfüllt von der Größe seiner Auf¬ gabe, begann er zunächst damit, mehrere Stunden auf die vielfältigen Formen der Satzglieder und des Satzbaues zu verwenden. Nun hatten wir aber dank einer bisher genossenen gemütlicheren Lehrmethode alter und ältlicher Lehrer nur die notdürftigsten Kenntnisse in der Sprachlehre erworben, und von dem, was uns da jetzt Stunde um Stunde vorgesetzt wurde, begriffen wir weder den noch den Zweck, den erst die Inhalt — da uns die Voraussetzungen fehlten — nähere Zukunft vielleicht enthüllen konnte. Wir waren alle zutiefst erschrocken und sehr unglücklich; eine lähmende Stille lag über der Klasse, und jedem ein¬ zelnen stand die Angst im Gesicht geschrieben, aufgerufen und gefragt zu wer¬ den. Selbst die sonst so kecken Raufbolde blickten scheinheilig interessiert zur Tafel, obgleich ihnen nichts ferner lag als die Geheimnisse des Satzgefüges. Endlich, nach endlos scheinenden Stunden, schien eine Art Erlösung ein¬ zutreten: wir durften das Lesebuch aufschlagen, das uns erschien wie dem Schiffbrüchigen eine rettende Planke. Es war uns sogar gänzlich gleichgültig, daß die Wahl des Lehrers auf eine, wie uns deuchte, recht blasse Naturschilde¬ rung fiel, denn unsere Schwingen waren gebrochen und wir waren schon glück¬ lich, wieder Boden unter den Füßen zu fühlen; hatten doch unsere Gedanken¬ beine bisher in einer unendlichen geistigen Leere gebaumelt. Zudem grünte und blühte draußen vor den drei Nischenfenstern des einstigen Klostergebäudes eine steilansteigende, von hohen Buchen durchstandene Gebüschhalde, die dem Schulzimmer eine behagliche Zurückgezogenheit verlieh und dem Stimmungs¬ bilde des Lesestückes entsprach. So schritten wir denn mit jenem Dichter durch einen Wald und schließlich hinab zu einer einsamen Mühle. Aber das ging nicht so eilig, wie es unseren Flegeljahren einzig gemäß gewesen wäre; unser unerbittlicher Lehrer zwang uns vielmehr mit zwar sanfter, aber unbeirrbarer Gewalt, nach jedem Schritte, den wir in diesem Walde taten, wieder stillzustehen, die Augen aufzutun, Hauptwörter, Tätigkeits=, Eigenschafts= und Umstandswörter nach ihren je¬ weiligen Begriffsinhalten ganz auszuschöpfen und aus ihnen Bilder zu formen, richtige Bilder voll Farben und Wärme, die wir mit den Augen der Einbil¬ dungskraft erblicken konnten. Er lehrte uns — kurz gesagt — lesen! Nun begannen wir allmählich zu ahnen, daß hinter der uns quälend er¬ scheinenden Art des Vortrages bewußte Methode sich verberge und wir auf der Fahrt durch eine endlos scheinende Wüste begrifflicher Dürre ein bestimm¬ tes, freilich erst in dämmernden Horizontstreifen erblickbares Ziel ansteuerten. Oder war dieser erste Versuch erlebten Lesens vielleicht schon mehr als eine erste, grüne, quellreiche Oase? Es schien fast so; denn unser, sein Vorhaben sorglich hütender Lehrer, der uns allerdings um ein weniges zugänglicher vor¬ kam, da er in seine fragenden oder erläuternden Worte nunmehr eine uns wohl¬ 110

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2