Jahrbuch des Kreises Steyr 1942

Mittelalter der Erde. In den belgischen Kreideschichten fand man die 7½ Meter langen Maas¬ zwischen Schlange und Echse echsen (Mosasaurus), die in mancher Hinsicht ein Mittelding darstellen. Daß die Schlangen von beintragenden Formen abstammen, beweisen z. B. die Reste von Hinterfüßen, die man in Form kleiner Beinstummel am Leib der Riesenschlangen zwischen Rumpf und Schwanz vorfindet. Was die Schlangen von den Echsen unterscheidet, ist also nicht absolute Fußlosigkeit. Aeußerlich zeigt weder unsre Blindschleiche, noch ihr über meterlanger balkanischer Verwandter, der Scheltopusik, Beine. Und doch sind diese beiden echte Echsen, denn ihr ganzer Körper ist mit Schuppen bedeckt, während der der Schlangen am Bauch die charakteristischen Halbringe aus Horn zeigt, die von den Rippenmuskeln be¬ wegt werden können und der echten Schlange beim Klettern und Anschleichen eine zwar lang¬ same, aber sichere und geräuschlose Fortbewegung ermöglichen. Beobachtet man dagegen unsre so kann man weder jenes heimliche Vorwärts¬ Blindschleiche (Anguis fragilis L.), schieben, noch ein Klettern, noch jene schönen ausgreifenden „Schlangenlinien“ bemerken wie bei der Natter, sondern nur ein recht unbeholfenes und wenig förderndes Schlängeln. Die geringe Geschwindigkeit läßt auch das arme, gänzlich harmlose Tierchen so häufig der Gefahr des Zertreten= oder Ueberfahrenwerdens nicht rechtzeitig entkommen. Liegt das Tier dann tot hr¬ auf dem Wege, so sind die Augenlider fast oder ganz geschlossen und so erklären sich beide Worte des deutschen Namens. Bei der echten Schlange hingegen sind die beiden Augenlider vollkommen durchsichtig und miteinander verwachsen und bilden einen urglasartigen Schutz vor dem Auge, das ja bei der raschen Bewegung „im Staube“ sehr ausgesetzt ist. Unter dieser Deckhülle gewinnt das Schlangenauge auch jenen „gläsernen Blick“ der manche fremd und unheimlich anmutet und wohl die Veranlassung zu der Meinung gegeben hat, die Schlange „hypnotisiere“ ihr Opfer, z. B. den Frosch, der allerdings oft starr und glotzend seine furcht¬ bare Feindin erwartet. Mit echter Hypnose, also Versetzung in willenlosen Tiefschlaf, hat der Vorgang nur eine äußerliche Aehnlichkeit gemeinsam und wird in der heutigen Tierseelenkunde als Schrecklähmung bezeichnet, wie sie mancher schon bei Schreckträumen im Schlaf erfahren hat¬ ist Der grundlegendste Unterschied zwischen Schlangen und sämtlichen andern Wirbeltieren die hervorragende Beweglichkeit der Schädelknochen gegeneinander, und zwar in dem Maße, daß z. B. rechter und linker Oberkiefer sich unabhängig voneinander mit den feinen Zahn¬ reihen an der erfaßten Beute vorwärts hacken, während die beiden Unterkieferhälften, die durch ein hochelastisches Sehnenband verbunden sind, sich immer weiter voneinander entfernen, bis sich endlich der Kopf wie ein Strumpf über die Beute gezogen hat. Feine, glasharte, nach rückwärts gerichtete Zähne, die auch am Gaumendach stehen, verhindern das sich verzweifelt So ist es möglich, daß der kaum zollgroße Kopf sträubende Beutetier am Entkommen. — einer Ringelnatter sich im Lauf einer halben Stunde über einen Frosch von Handgröße zu schieben vermag. Grauenhaft ist dieser Schlingakt und durchdringend das Geschei des Frosches, der, mit den Hinterbeinen schon im Schlund der Schlange, noch mit Kopf und Vorderbeinen hervorsieht. Aus einiger Entfernung sehen übrigens Beute und Räuber zusammen wie ein wunderliches Einzeltier aus und das mag zu der immer wieder auftauchenden Vorstellung vom „Tatzelwurm“ (d. i. „Wurm mit Tatzeln oder Pratzeln) Anlaß gegeben haben. Wie stark der Verdauungssaft der Schlange wirkt, zeigt der Fall, wo eine Ringelnatter, beim Schlingakt überrascht, den schon halbverschlungenen Frosch erbricht, dessen Hinterzehen bereits halb ver¬ daut sind. Aus der Schärfe des Verdauungssaftes geht auch die ungewöhnliche Schärfe des Schlangenmistes hervor, der sehr übel riecht, stark ätzend wirkt, und mit dem sich die Ringel¬ natter, die ungern beißt, sehr wirksam verteidigt Von alledem ist bei der Blindschleiche keine Rede. Ihre Nahrung besteht in Würmern und den so außerordentlich schädlichen Nacktschnecken, die sie mit ihrem winzigen Mäulchen packt. Nur der Unterkiefer kann sich bewegen und so wenig spreizen, daß das Maul kaum einen Finger fassen könnte. Erfaßt, wehrt sich die Blindschleiche ganz anders. Wild schlägt sie herum, bis ein Teil ihres Schwanzes, der das 1 bis 1½ fache der Rumpflänge ausmacht, abbricht. Der Stummel zuckt so heftig hin und her, daß er in der Regel den Feind vollkommen ab¬ lenkt und der „ehemalige Besitzer“ das Weite suchen und finden kann. Nattern z. B. fressen während die beim Ueberfall auf Schleichen regelmäßig deren abgeworfenen Schwanz, Schleiche entkommt. Die Schwanzadern schließen sich beim Abwurf sehr rasch, so daß kaum ein Blutstropfen erscheint. Der Schwanz wächst bei dieser Autotomie nie so kräftig nach, wie bei den beintragenden Eidechsen, sondern es wächst nur ein ungefähr 1 Zentimeter langer kegelförmiger Stumel nach. Hat die Blindschleiche auch nicht die Geschmeidigkeit und etwas unheimliche Anmut der echten Schlange, so zieht sie durch ihr friedliches Wesen und die Schönheit ihres Schuppen¬ panzers an. 304

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