306 Mann am Tau! Eine Geschichte von Nikolai Iwanow. Weit oben im Norden, im Gebiet der Lappen, bringt das Boot Haiiko und Järvinnen von der finnischen Seite des Pasfig Elf hinüber zum Varangerfjord, wo Järvinnens Vater Jagdrechte besitzt. Sie landen, schreiten die Hänge hinan, über die noch der Dunst der Morgennebel hängt. Langsam kommt der fahlrote Schein der Sonne hoch, färbt die höchsten Grate im Fjord und wirft ein seltsames Schattenbild gegen die Klippen. Haiiko ist schlank und knabenhaft, während Järvinnen, stämmig und derb wie ein Riese gegen ihn wirkt. Deswegen trägt er auch das große Tau, an dem sich Haiiko später zu den Nestern der Eiderenten und Nordkapganse hinunterlassen will, um Eier zu suchen. Von ihrem Erlös ernährt er sich und die Mutter. Endlich stehen beide auf dem Gipfel. Weit kann man von hier über das Meer ehen, um das Kap Vardö, wo jetzt die aufkommende Flut brandet. Und in den Fenstern von Kamalei, dem kleinen Dorf, spiegelt sich jetzt die Sonne, als sende sie dorthin kleine freundliche Signale. Järvinnen hat das Tau abgeworfen, schlingt einen doppelten Knoten um Haiikos Hüften und macht eine Probe, Haiiko aber sieht ihm lächelnd ins Gesicht: „Laß nur, Järvi, das hält uns noch aus.“ — Järvinnen schweigt, er hat heute so seltsame Gefühle und weiß nicht warum. Soll er seinem Kameraden sagen, daß dieses Tau doch einmal reißen wird? Dann läßt sich Haiiko mit dem großen Korb hinab, der die Eier tragen soll. Schon schwebt er über den Nestern der scheuen Vögel, die mit ihren Schnäbeln nach dem Eindringling hacken und ihn mit harten Flügelschlägen zu vertreiben suchen. Schwer nur kann sich Haiiko ihrer erwehren, während Järvinnen oben langsam das Tau über die rissigen Steine führt. Ganz mechanisch, denn er vertraut dabei elbst auf seine ungeheure Kraft, ohne zu denken. Denken ist nur selten seine Sache. Seine hellen Augen blicken über das Meer, über dessen Brandung die eben noch um ihre Brut besorgten Vögel auf und niedertauchen, um Fische zu erjagen. Einem oder dem anderen wirft die Flut wohl eine Beute zu, aber sofort fallen die anderen über ihn her, ihm zu entreißen, was ihm unverdient zufiel. Järvinnen spürt, daß dieses Schauspiel irgendwie mit ihm zusammenhängen muß Plötzlich weiß er es: Christina, die blonde Tochter des Zollaufsehers Mäthaki! Warum ist so ein Unterschied zwischen ihm und Haiiko, daß Christina den anderen liebt und nicht ihn selbst! Warum liebt Christina Haiiko so, daß sie abende am Strande auf ihn wartet? Haiiko ist arm. Was tut er um diese Liebe? Nichts. Er, Järvinnen, könnte Christina alles kaufen, denn sein Vater ist reich, und er selbst hatviel Geld. Warum liebt Christina Haiiko? Mißgunst regt sich in dem Riesen, und er weiß: Haiiko ist zu viel da. Haiiko, der da unten am Tau hängt, stört ihn. Jetzt ruckt das Tau an. Haiiko will nach oben, Järvinnen tritt ganz dicht an den Felsrand heran. Das Meer brandet in den Fjord. Es scheint zu warten. Ein Tan — kann doch auch reißen, wollte er vorhin Haiiko sagen, kann es nicht? Gestern abend hat Christina zu ihm gesagt, er solle bei dieser gefährlichen Arbeit auf Haiikn achten. Kann man aufpassen, wenn man so liebt wie Järvinnen? Unwillkürlich zieht er das große Fischmesser aus der Scheide und läßtden blanken Stahl spielerisch über das Tau gleiten. Jäh zieht er die Klinge zurück und steckt sie wieder fort, als mit einem leichten Knall eine Strähne des Taueszer¬ pringt. Gebannt sieht er das schlappe Ende sich dem Felsrand zu aufzwirbeln. Die einzelnen Fäden ziehen sich dabei auf. Fünf sind es, gleichsam fünf Finger eine ** Hand. Was hat er gestern versprochen? . Wo ist eigentlich dieses Gestern? Järvinnen kann nicht mehr hinsehen. Das Blut dröhnt in seinen Ohren. Von 5. unten kommt ein Schrei. In kurzen harten Stößen jagt des Riesen Atem über die fieberspröden Lippen. Ein=, zweimal ruckt das Tau an. Da, mit bösartigem Knall reißt ein zweiter Strang. Jetzt ...
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