302 Pauli sah sich diesem merkwürdigen Wunsche gegenüber anfänglich hilflos, dann aber betrachtete er die armselige, vor Schmerz und Kälte zitternde Frau, be¬ dachte, daß die Erfüllung ihrer Bitte, so sonderbar sie genannt werden mußte, bei besonnener Güte und gutem Willen in der finsteren Schneenacht immerhin möglich war. Der Zug führte in dieser Jahreszeit wenig Reisende; und einigen Menschen in bitterer Armut konnte geholfen werden. Als er endlich nach einigen Bedenken seine Zustimmung nickte, klang das Signal für den nahenden Zug. Pauli verständigte den Schaffner mit einem kurzen Bericht von dem unge¬ wöhnlichen Fahrgast. Wie einen steifen Schwerkranken schleppten die Frau und ihr Mann den Toten in ein dunkles Abteil und setzten ihn in eine Ecke. Niemand be¬ merkte das in der Schneenacht. In der nächsten Station stieg ein Weinreisender ein. Er hatte, von dem Schnee überrascht und durchnäßt, in der Bahnhofswirtschaft Glühwein getrunken. Infolge der Zugverspätung war die Menge zu reichlich geworden. Der Zufall — oder war wollte es, daß der Ankömmling sich dem toten Tischler gegen¬ es das Schicksal? — übersetzte. Versuche, das Licht zu entzünden, mißlangen, denn er stand unsicher auf den Beinen. So wollte er mit dem stummen Menschen gegenüber in ein Gespräch kommen. Aber wie sehr er sich auch bemühte, er erhielt auf keine Frage eine Antwort. In der Laune des Weines schlug er ihm herzhaft auf die Schulter und wollte auch eine besonders freundliche Anrede anschließen, wie sie die Agenten stets bereit haben. Aber er kam über das: „Lieber Herr Vetter! . . “ nicht hinaus, denn der starre Tischler, wohl aus dem Gleichgewicht geraten, fiel hin wie ein Stück Holz. Plötzlich wieder halb nüchtern geworden, leuchtete ihm der Reisende mit einem Zündholz in das Gesicht. Da erkannte er zu seinem grenzenlosen Schrecken die Züge eines Toten. Nur von dem Gedanken erfüllt, er sei ein Mörder, wenn auch ohne Absicht, einstweilen aber noch unerkannt, öffnete er in einem jähen Entschluß, in dem noch die Lähmungen des Rausches nachwirkten, das Fenster und warf mit vieler Anstrengung den toten Tischler in den Schnee hinaus. Er saß noch völlig in Schweiß, als der Schaffner kam, um sich die Fahrkarten zu besehen. „Wo ist denn der da?“ fragte der Beamte verwundert, während er in die leere Ecke zeigte. „Er ist in der letzten Station ausgestiegen“, sagte der Agent. ausgestiegen?“ Der Schaffner ging weiter. „So Der Reisende hatte den Unterton wohl gespürt. Er sah sich bereits im Gerichts¬ saal, im Kerker, auf dem Galgen. Die Angst schnürte ihm den Hals zusammen. Es blieb nur eines: Flucht! Denn der Schaffner war wohl nur gegangen, um andere Beamte zu holen. Sie durften ihn nicht mehr finden, die Angst um die bedrohte Freiheit machte ihn irre. Er schlich auf die Plattform hinaus und sprang, dem weichen Schnee vertrauend, mit einem verzweifelten Schwunge ab. Es schneite die ganze lange Nacht in dichten Flocken. Am Morgen fuhr eine Lokomotive mit dem Schneepflug auf den Geleisen hin und häufte den Schnee in hohen Wülsten zu beiden Seiten des Bahndammes. Die Tischlersleute wagten nicht, nach dem Verbleib des Toten zu forschen, da ihr Gewissen durch die eigentümlichen Umstände der Fahrt belastet war. Pauli und der Schaffner, durch Selbstanklagen genug bestraft, schwiegen natürlich. Erst die Zeit des auftauenden März löste das * Rätsel; die Sonne schmolz den Schnee über den beiden Leichen fort .. Das Signal meines Zuges ertönte. Ich schied aus der kleinen Station der Nebenbahn, in der sich ein gütiger Mensch immer wieder den Stachel der Reue in das Herz drückte. Seine Frage an das Schicksal erhielt wohl nie eine Antwort.
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