Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1939

301 Irrtum in der Nacht T Eine Geschichte von Josef Friedrich Perkonig. Die Härte des Winters läßt mich einer seltsamen Bekanntschaft gedenken, durch die ich abermals bestätigt fand, daß oft das Leben kühner dichtet als Roman und Film. Ich wwar damals im Lande durch einen schneefreien Winter gewandelt, bis mich dann ein plötzlich einsetzender Flockenfall, der die ganze Landschaft unwegsam machte, zu der Bahnstation eines kleinen Marktes trieb. Als ich am Schalter die Fahrkarte holte, schob den grünen Vorhang, durch den das Licht der Kanzlei schimmerte, ein noch junger Mann beiseite, dessen leidendes Aussehen mir sogleich auffiel. Er sah mich nicht an, und ich hatte — wie sich manchmal schon so eine eigen¬ tümliche Ahnung vordrängt — das bestimmte Gefühl, einem unglücklichen Menschen gegenüberzustehen. Viel später, als ich schon lange im Wartesaal saß, in dem Halbdunkel vor mich hindämmernd, stand er plötzlich in der Tür. „Der Zug hat noch zwei Stunden Verspätung“, sagte er, „der Herr Stationsvorstand läßt bitten, sich in seine Kanzlei bemühen zu wollen.“ Die Form der Anrede und gewisse Wendungen darin bestärkten mich in meiner Meinung, es mit einem ungewöhnlichen Beamten zu tun zu haben. Ich war froh, den Warteraum, in dem es nach schwefligen Kohlen zu riechen begann, verlassen zu können. In der Kanzlei fand ich einen älteren Herrn, der, redselig wie gewöhnlich solche in Entlegenheit Verbannte, in seiner Langeweile nach einem Menschen verlangte. Dankbar für die Wärme seiner Kanzlei nahm ich es hin, daß er mich erst nach 7 längerer Zeit die Frage aussprechen ließ: „Wie heißt Ihr zugeteilter Beamter? „Haben Sie ihn auch bemerkt?“ fragte der alte Herr, und ich erfuhr nun ein groteskes Erlebnis des Mannes, das, obwohl nur in den Zeitraum einer Nacht gezwängt, dennoch Gewalt genug besessen hatte, ihn von seinem Wege abzudrängen. Er hieß Friedrich Pauli und hatte als ein Mensch von tadellosem Auftreten und guten Anlagen eine schöne Zukunft vor sich. In einer Winternacht mußte er den mitternächtigen Schnellzug in X=Stadt abfertigen; der Wind trieb den Schnee gegen die Scheiben, daß sich die weißen Klumpen daran ballten. Ohne Unter¬ brechung schrillte das elektrische Läutwerk; der Signalhammer schlug die Schnee¬ kuppe von der tönenden Glockenschale. Da klopfte es zaghaft an die Tür, die auf den Bahnsteig führte. Zuerst glaubte Pauli, es sei der Wind, der darin stieß, aber bald wurde er gewahr, daß es ein Menschenknöchel war, denn ein todblasses Frauengesicht starrte durch die Scheiben herein. Er trat in den Schneesturm hinaus und erschrak beinahe zu Tode, als ihm das weinende, ärmlich gekleidete Weib den Rockärmel küßte. Lange mußte er seine Bemühungen fortsetzen, bis er hörte, daß nun eine unendlich große Bitte an ihn gerichtet werden würde. Miene und Ton der Frau waren so verzweifelt, daß er erwartungsvoll ihren Bericht erbat. Sie war nicht zu bewegen, vorher in die Kanzlei zu treten. Immer wieder von Schluchzen unterbrochen, erzählte sie Pauli, am Morgen sei ihr Bruder, ein Tischler aus der nächsten größeren Stadt, zu Besuch gekommen und dann plötzlich beim Mittagessen tot hingesunken. Herzschlag! Und nun sollte er wieder in seine Heimatstadt gebracht werden, wo er begraben sein wollte, aber die armen Leute könnten den Leichenwagen für diese weite Fahrt nicht bezahlen, schon gar nicht eine regelrechte Beförderung mit der Eisenbahn. Und da bat die Frau, ob sie den toten Tischler nicht in ein leeres Abteil des nächtlichen Schnellzuges schaffen dürfe, er würde dann in der betreffenden Station von den Tischlersleuten abgeholt werden, zu denen bereits ein Bote gesandt war.

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