298 Unwirsch wendete sich Ramasch ab von dem Tier. Trostlos und elend. Er fühlte seine Kräfte schwinden. Seine Bewegungen wurden schwer und unbeholfen. Stundenlang lag er wach am hellichten Tage auf seiner Pritsche, ließ die Kameraden draußen allein, mochten sie machen, was sie wollten. Dann sprang er plötzlich auf, schrie und töbte in der Hütte, riß sich die Kleider vom Leibe, trat vor den Spiegel und sprach mit sich selbst: „Du, du bist der Verräter, ja du, sie sagen es dir alle Tage, merkst du es denn immer noch nicht, du mußt verrecken, elend verrecken hier in der russischen Steppe, mehr bist du ja nicht wert, du Verräter!“ Dann ein Hieb, und die Scherben fielen zu Boden. Ramasch rannte ins Freie, durch mannshohes Gras, riß sich die Finger an den harten Gräsern blutig, warf sich ins Gras und weinte. Die große Verlassenheit kam über den bärstarken Mann. Noch ehe der Winter kam, zerbrach Ramasch an dem harten Willen der Männer. Als sie an einem späten Herbsttage vom Tagewerk heimkamen, war Ramasch verschwunden. Auf der Suche fanden sie ihn mit ausgestreckten Armen auf dem Gesicht im Grase liegend . . . tot. Kein sichtbares Zeichen eines gewalt¬ samen Todes trug er. Erst als sie die Litewka öffneten, entdeckten sie in der Herz¬ gegend eine kleine, kaum sichtbare Wunde, geschlagen mit dem geschliffenen Löffel¬ stiel, den sie damals benutzten, um sich den Weg aus der Baracke in die Freiheit zu bahnen. Ihn hatte der Verräter an sich genommen. „Ein harter Tod für einen Verräter!“ sprach Sebald, „viel härter als das gerechteste Urteil.“ Dann verscharrten sie ihn in der schweigenden Steppe. K K Das Herz des Artisten Minotti Erzählung von Walter Persich. Minotti wirkte wie ein schlichter Handwerker. Erst wenn er am Abend im Scheinwerferlicht erschien, nahm er die Aufmerksamkeit gefangen. Aller Augen richteten sich auf ein seltsam geschliffenes und geschlossenes Glasgefäß. Unter dem Lichtkegel des Scheinwerfers erwachte darin ein geheimnisvolles und zierliches Stück Leben. Die Zuschauer bemerkten unter der gläsernen Hülle eine seidenblaue Tänzerin, die auf den Fußspitzen schwebte und nun zum Klange der gedämpft aus dem Orchester heraufklingenden Musik einen Tanz innerhalb ihrer runden Glas¬ wand begann. Minotti schnitt mit einer Armbewegung den Beifall ab. „Meine Damen und Herren“ erklärte er, „dieses Glas ist vollkommen luftdicht geschlossen. Sie werden jetzt das singende Glas hören.“ Professoren und Doktoren haben sich vergeblich den Kopf zerbrochen. Ingenieure haben nach Spiegelungs¬ reflexen gesucht. „Wir lassen unsere Vorstellung von der Polizei überwachen, um dort und dort in der Kulisse steht je ein Beamter. — jeden Trick auszuschalten Sie Nirgends ist eine Sprechmaschine oder ein Rundfunkgerät aufgestellt. werden die Pagenarie aus „Figaros Hochzeit“ hören. Die Dame im Zauberglas singt ...“ Entzückt lauschte das Haus. Es war ein vollendeter Gesang, mit einem eigen¬ artigen Klang, als werde er von einer dünneren als einer menschlichen Stimme hinter einer hauchfeinen Glaswand hervorgebracht, dennoch war er überall ganz deutlich zu vernehmen, und jede Silbe des Textes blieb verständlich. Wieder und wieder verbeugte Minotti sich mit seinem Zauberglase in der Hand. Jetzt stand die blaue Tänzerin reglos wie eine Porzellanpuppe, und niemals ließ er sich zu einer Zugabe bewegen. Minotti wurde eine Sensation seiner Zeit. Niemand konnte das Geheimnis seiner Darbietung erklären. Alle Mutmaßungen erwiesen sich als falsch. Die Berliner, die Londoner, die Hamburger, die Pariser Polizei hatten schon ihr Gut¬ achten abgegeben. Warum sollte man Minotti verhaften? Es lag keine strafbare
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