Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1939

296 Schranke. Da rief der Lokomotivführer rasch seinen Heizer auf die Seite. Der Lokomotivführer hatte die weithin leuchtende Schrift auf dem Findling entdeckt. und nun winkten Lokomotivführer und Heizer dem Wärter von Block Haha — Viertannen mit der Hand zu: „Jawohl, Kamerad — verstanden — einverstanden!“ Hubert Trunk nickte. Posten Block Viertannen stand aufgebaut, die Fahne zusammengerollt im Arm, die Hand am Horn, die Gedanken beim Signalwerk, ohne sich zu rühren. Darob brauchten sie nicht zu winken. Da war nichts Außergewöhnliches ge¬ schehen. Ein Einschlag nur. Daß man vor innerem Gespanntsein mitten aus dem harmlosen Schlaf auffuhr, ob denn das alles um einen herum Wahrheit sei, nackte Wahrheit? Ein Wissen über Nacht, daß das sogenannte Glück ein Ding ist, nicht zu messen nach gewohnten Maßen, auch nicht nach Geld oder Geldeswert, einzig nur am Schlag des eigenen Herzens. Es ließ sich nicht mit Worten beschreiben. Und darum hatte Hubert Trunk nach seiner Art diese wenigen Worte mit weißer Farbe auf den blanken Stein gemalt: „Freut euch des Lebens!“ Einander fremde Menschen im Zug, die an Block Viertannen vorüberfahren und die Schrift auf dem Findling lesen, die blicken sich wohl in die Augen dabei und schauen beschämt in sich selbst hinein. Eine seltsame Inschrift mitten im Wald bei einem kleinen Bahnwärterhaus im großen Deutschland. Wer das wohl dahin geschrieben haben mochte? Freut euch des Lebens! Ja — ja, man sollte es sich merken! — Die Steppe schweigt! Erzählung von Josef Clemens Lohr. Ausgedörrt dürstete die russische Steppe nach Regen. Kein Laut zerriß die gesättigte Stille, keine Vogelstimme, kein Grillengezirpe, nur ein riesiger glühender Ball zog seinen Weg durch den tiefblauen Himmel. Eine kalkweiße, die Augen blendende Straße zerschnitt die Steppe in zwei unendliche Hälften. In geringen Abständen saßen verlumpte Männer auf Stein¬ haufen und klopften Steine zu Schotter. Tack, tack, tack . . . stundenlang, tagelang. Zwischen den Männern stolzierte ein Riese an Gestalt auf und ab. Verbissen, ver¬ krampft, mit eingezogenen Winkeln am Munde, mit brennenden Augen. Niemand kümmerte sich um den Mann. Er trug die Uniform eines österreichischen Regiments übte die Aufsicht aus in diesem verlorenen Winkel. Ein Ehrenposten, den er und Russen verdankte. denIrgendwo an der österreichischen Front war er in die Hände der Russen ge¬ raten und nach endloser Wanderschaft in ein Lager gekommen, das deutsche Kriegs¬ gefangene beherbergte. Hier trug sich jeder mit Fluchtgedanken. Merkwürdig war nur, daß die Russen so oft rechtzeitig die Flucht zu vereiteln wußten. War ein Verräter am Werk? Noch wußte man nichts. Doch, man war wachsam geworden. Fieberhaft arbeiteten einige Leute an der Unterminierung des Barackenlagers, um auf diesem Wege ins Freie zu kommen. Schon war der Stollen bis an das Drahtverhau vorgetrieben, als die Russen überraschend erschienen und den Ausbruch vereitelten. Wer hatte den Stollen verraten? Nur Deutsche lagen in der Baracke und Ramasch, der Tscheche in österreichischer Uniform. Für lumpige Brocken russischen Fleisches war er zum Verräter geworden. Groß war er und stark, hatte ewigen Hunger, aber durfte er Kameraden verraten? Zur Strafe wurden die Deutschen in die Steppe geschickt, weit abseits jeder Verbindung, jeder Aussicht zur Flucht, und Ramasch war ihr Führer. Einmal im Monat brachte ein Panjegefährt Nahrung und Post. Sonst kam keine Menschenseele in die Endlosigkeit dieses Graslandes. Gleich nach ihrer Ankunft im einsamen Blockhaus, das ihnen als Unterkunft und Heimstatt diente, ergriff Krispin, der Bauer

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