Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1939

289 kleinen Mulde, klebt noch eine Almhütte — zerfallen und verlassen, wohl seit Jahr¬ zehnten. Als wir den eingestürzten Trümmerhaufen näher betrachten, entdecken wir am Türbalken der einen Hütte die deutlich lesbare Jahreszahl 1761! In dieser Einöde, die man als Sinnbild der Verlassenheit hinstellen könnte, haben vor fast zweihundert Jahren Menschen unseres Volkes gehaust und um das karge Leben wahrhaft gerungen. Wer sich das Schaffen und die Kämpfe dieser Bergbauern mit der hier gewaltig hausenden und aller Urbarmachung wider¬ strebenden Natur klar vorstellen kann, der wird sich vor diesen Helden der Arbeit und Anspruchslosigkeit in Ehrfurcht und Bewunderung stumm verneigen. Man kann sich heute gar nicht mehr denken, auf welch gefährlichen Steigen die Sennerinnen ihre Almfahrt zuwege brachten, denn alle Pfade leiten an Abstürzen und abschüssigem Grund entlang. Der Wald hat wohl seither wieder ein größeres Stück Rodung verschlungen. Ringsum drohen die Wildgräben und aus dem feuchten Riesenkessel brausen und tosen die Wasserfälle herauf. Im Hochsommer reichen die Kare herein, die jetzt noch gleichmäßig unter Schnee liegen. Von dieser vermorschten Almhütte, die nun der Hochwildjagd geopfert ist wie so viele, viele in diesen Bergen, scheidet man nur mit traurigem Herzen und be¬ klommener Seele und kehrt mit seinem Sinnen unablässig zurück zu den Vorfahren, die fast zwei Jahrhunderte hier wie Einsiedler lebten. Nach einem kurzen Wegstück gegen den Kessel hin stießen wir auf ein starkes Rudel Gemsen, die etwa dreißig Schritte vor uns im Aufstieg innehielten und un¬ verwandt nach uns äugten. Da wir uns lautlos verhielten, blieb das Hochwild noch am Stand, als wir die Schlucht verließen. Der Abstieg war nicht leicht zu finden, da wohl rundherum im Gewände aus¬ geprägte Jägerpfade kreuz und quer führen, aber die Einstiege dorthin schwer zu treffen sind. Schmal und ausgesetzt schlängelt sich das Steiglein an grotesken Graten und zerbröckelnden Steintürmen hinab. Der Kessel scheint sein Innenrund zu drehen und öffnet vor uns neue Falten undKulissen. Die Wasserfälle hängen wehend über die Felsschründe wie der uralten Waldzwerge krause weiße Bärte. Immer wieder gebannt, schauen wir solange zu¬ rückbis uns der tiefere Hochwald das mächtige Bild verstellt. Unten, auf einer niederen einstigen Alm, schnürt gemächlich ein Fuchs über die Lichtung. Nocheinmal umdämmert uns undurchsichtiger Hochwald, in dem ein märchengrüner, moosumsponnener Bergbrunnen murmelt. Das Bild ist so einsam=schön, daß man unwillkürlich an den Quell der Nibelungensage denkt, wo Siegfried unter Hagens Speer hinsank. Ehe wir noch danach Sehnsucht trugen, umgaben uns schon die ersten Berg¬ wiesen und kurz darauf traten wir in das höchstgelegene Bauerngehöft. Der alten Bäuerin wäre es jederzeit möglich, weiter draußen vor den Bergen beiden Kindern zu wohnen, aber die mehr als Siebzigjährige kann sich von der Nähe des Hochlands nicht trennen und verbringt Winter und Sommer hier mit einer einzigen Magd. Dieses wunderbare alte und doch so klare Frauenantlitz hätte jeden großen Künstler begeistert; und die helle Stimme klang uns noch wie eine seltsame Er¬ zählung nach, als wir schon längst im Alltag standen. Die Küche mit dem offenen Feuer strömt köstliches Heimgefühl aus. Dielen und Stube sind so rein gehalten, daß auch Verwöhnte nichts zu tadeln fänden. Das ganze Gehöft ist wie der Inbegriff aller Geborgenheit. Und was die Flut des Lebens einmal so weit heraustrug, das fordert sie nimmer zurück. Wir wenden uns zögernd zu Tal. Der wilde Kessel hoch oben ist verschwunden. Die Falten und Schluchten der Wände haben sich so zusammengeschoben, daß die Tiefen und Wildwassergräben ausgeglichen und geglättet erscheinen. Die labyrin¬ thische Gliederung ist aufgelöst in eine pralle Wandflucht, die sich unnahbar hochreckt. Alle Szenerie, die dahinter verborgen liegt, deckt der unbewegliche graue Felsen¬ vorhang, der erst im Abendleuchten ein magisches Rot zurückstrahlt und nach dem alle in Andacht gemeinsam aufschauen, die jemals mit lichtvertrauten Augen über die Berge gingen ...

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