Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1938

371 „Grigorij, du stehst vor der größten Aufgabe deines Lebens. Wenn es dir gelingt, den Korsen zu fangen, bist du der berühmteste Offizier Rußlands, ja der ganzen Welt!“ Und Leutnant Grigorij Rakusow ritt in den niedersinkenden Abend des vierten Dezembers. Der Schnee wehte. Einsam war der Weg. Kein Mensch war ihn gegangen, kein Roß war ihn geritten. Der Leutnant starrte vor sich hin. Nichts sah er als den endlosen Schnee und bisweilen die Spuren von Wölfen. Leutnant Rakusow ritt die Nacht hindurch. Am Morgen, der trübe aufstieg, machte er vor einem Bauerngehöft Rast. Wenige Stunden später ritt er weiter Westen. nach Allmählich war die Gegend bekannter geworden. Er näherte sich seiner Heimat. Während sein starkes Pferd durch Schnee und Wind dahinkämpfte, dachte Grigorij lächelnd seiner jungen Frau Nastjenka und seines kleinen Sohnes Iwan. Was taten sie wohl zu dieser Stunde? Dachten sie an ihn? Beteten sie für ihn, fragte Iwan nach dem Vater, sang Nastjenka das Lied, das kleine, einfache Liedchen? Immer schlang Iwan seine Arme um die geliebte Mutter, wenn sie das Lied sang; und dann bat er: „Mütterchen, sing nochmals das Lied!“... Und Leutnant Grigorij, während ihm der Schnee um das Gesicht peitschte, fühlte plötzlich heiße Sehnsucht nach Frau und Kind. Er beugte sich vor, er lag auf dem Nacken des Pferdes und flüsterte ihm Kosenamen ins Ohr. Das Pferd wieherte es streckte sich und sprengte keuchend weiter. auf Am Abend ritt der Leutnant in Wilna ein. Er meldete sich bei dem Ritt¬ meister der Abteilung. Dieser lachte. „Wie? Napoleon soll durch Wilna kommen? Ausgeschlossen! Meine Beobachter sehen auf viele Meilen keinen einzigen Franzosen. Wenn er wirklich kommen sollte, so wird es noch Tage dauern!“ Rakusow ereiferte sich: „Der Oberst weiß genau, daß Napoleon weit vor seinem Heere flieht. Wenn auch keine Franzosen zu sehen sind, der Kaiser wird kommen, allein in einem Schlitten! Mißmutig schüttelte der Rittmeister den Kopf. „Bei diesem Teufelswetter erfrieren meine Soldaten, wenn ich sie auf Posten undPatrouillen schicke. Wenn der Kaiser überhaupt durch Wilna kommt, vor drei Tagen ist das unmöglich! Als es Nacht geworden war, sammelte Leutnant Rakusow einige Freiwillige und ritt mit ihnen in das Dunkel. Ueber der Ebene brauste der Sturm; der Schnee schnitt in die Gesichter. Rakusow hatte nur einen Gedanken: den Kaiser gefangen¬ nehmen. Er selbst ritt mit zwei Freiwilligen gegen Norden. Ein plötzliches Gefühl sagte ihm, daß Napoleon den geraden Weg nach Wilna vermeiden werde. Die Nacht war einsam; die Stunden schlichen dahin. Gegen Morgen näherte sich Rakusow seinem Schlosse. Er war verwirrt; mitten in der Heimat sollte er den großen Korsen fassen. Und zugleich brannte wieder die Sehnsucht nach Frau und Kind. Im ungewissen Dämmern sah er sein Schloß nicht; aber da stutzte er. Jetzt leuchtete aus dem Grau des dämmernden Wintermorgens ein Lichtschein. Die Welt war stumm; da wurde der Leutnant schwach. Das Licht kam aus seinem Schlosse. Er stieß hervor: „Drei Minuten nur oder fünf! Ich muß Nastjenka und Iwan sehen!“ Er schärfte den beiden Begleitern größte Wachsamkeit ein; dann ritt er allein dem Schlosse zu. Das Licht kam aus Nastjenkas Zimmer. Rakusow sprang vom Pferde, er eilte auf das Fenster zu und sah mit stürmischem Herzen durch die Scheiben. Er sah seine Frau, die am Bette des kleinen Iwan saß und sang. Er preßte das Ohr an die Scheibe. Nun vernahm er leise das Liedchen, das Iwan so sehr liebte. Er hatte plötzlich Tränen in den Augen. Seine Finger zuckten. Dann klopfte er an das Fenster. Nastjenka erschrak; sie fuhr auf, eilte an das Fenster und öffnete es. „Grigorij! Grigorij!“

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