Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1938

365 Still liegt sie da, die verrunzelten Hände auf der buntgewürfelten Bettdecke gefaltet. Die gelbe Sterbekerze knistert. Die Sterbende hört es, aber ihren tröstlichen Schein kann sie nicht mehr sehen — irdisches Licht dringt nicht mehr in ihre Augen. Doch der Pfarrer, der ihr die Wegzehrung reicht, sagt tröstend, sie wird bald das ewige Licht schauen. Da lächelt sie und ist's zufrieden. Die rote Gritt liegt schluchzend vor dem Bett hingeworfen. Zitternd hat die alte Hand ihr übers Haar gestrichen. „Leev Kind.. Dann Versinken in Stummheit. Die Wanduhr tickt, rasselnd läuft ihr Gewicht ab. Die Kerze brennt langsam herunter. Eine Nachbarin murmelt die Sterbegebete. Ein paar zitternde Atemzüge — dann strecken sich die wandermüden Füße der alten Botenfrau. Sie hat lange genug für die Lebenden und Toten gesorgt. Nun mögen die für sie sorgen! O, das arme Hühnchen! Von Josef Robert Harrer. Die kleine Trude durfte mit ihrer Mama den Prater besuchen. Was gab es da nicht alles zu sehen! Fest und ängstlich hielt sie sich an Mamas Hand, als sie vor der Bude der Kraftmenschen standen, während der Ausrufer gewaltig schrie. Und die bunt bemalten Pferde des Ringelspiels, die fliegenden Schaukeln, die vielerlei Musik, der Bauchredner: das war für Trude Erlebnis über Erlebnis. Dann kamen sie in einen ruhigeren Teil. Die Sonne schien freundlich. Vor einem Bretterhaus hockte auf einer Querstange ein Affe. Trude lachte. Sieh nur, Mami, wie komisch er mich anblickt!“ Viele Kinder standen herum und lachten. Da sagte ein Herr: „Treten Sie ein! In unserer Tierschau sehen Sie Krokodile, Schlangen, kleine Haifische! Sie sehen fünfzehn Affen und drei Füchse! Sie sehen den sprechenden Papagei und den schlauen Luchs! Die größte Freude für Kinder! Und auch die Eltern werden es nicht bereuen, unsere Tierschau besucht zu haben. Treten Sie ein!" Mama las Trudes Wunsch von den leuchtenden Augen ab: „Wollen wir uns dieTiere ansehen, Trude?“ Das Kind nickte und sagte: „Und fünfzehn Affen, Mama! Wie süß!“ Sie traten ein. Sie sahen die Affen, die Schlangen, den Luchs, den Papagei und noch viele andere Tiere. Trude konnte sich kaum trennen. Endlich sagte Mama: „Komm, Trude, jetzt müssen wir gehen. Wir haben doch schon alles gesehen. Du wolltest ja noch auf der Hochschaubahn fahren. Und den Bauchredner wollen wir auch noch besuchen!“ Aber Trude hörte nichts. Sie sah nur die Tiere; ihre Wangen glühten. Immer wieder zog sie Mama an der Hand vor einen Käfig. „Schau, Mami, dort im Winkel steht noch ein kleiner Käfig. Den müssen wir uns noch ansehen... Nein, Mami, wir waren wirklich noch nicht dort!“ Sie gingen hin. Sie standen vor einem kleinen Käfig und in dem Käfig befand sich ein Hühnchen, ein kleines, mageres Hühnchen. 77 „Was ist das, Mami? „Ein Hühnchen, Trude!“ „Ein gewöhnliches Hühnchen, Mami? Das glaube ich nicht! Das ist bestimmt ein fremdes Hühnchen, eines aus Afrika oder gar aus Indien. Ja, aus Indien, wo Onkel Richard ist, Mami! Denn was sollte ein ganz gewöhnliches Hühnchen unter diesen Tieren?... Mami, bitte, frag den Mann dort, er wird bestimmt wissen, daß dieses Hühnchen kein gewöhnliches Hühnchen ist.“ Mama wandte sich an den Aufseher. Dieser lachte und sagte: „Nein, gnädige Frau, das ist wirklich ein ganz gewöhnliches, junges Huhn... Nein, eigentlich

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