Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1938

363 Stimmen der Nacht: das Aufflattern eines geschreckten Vogels, das Forthuschen verscheuchten Wildes, fernes Hundegebell. Doch diese nächtlichen Stimmen schrecken die Kathrin nicht, sind ihr altvertraut. Sie möchte ihre einsamen Botengänge nicht missen. Mag's draußen stürmen und wettern, frostig und unfreundlich sein — die Kathrin hat doch ihr Land gern, ihre Heimat, ihr Stückchen Welt, das gerade nicht das unschönste ist: das Gelderland! Durch tausend Fäden ist sie mit ihm verbunden. Wenig lichte, viele dunkle Fäden waren es. Ach ja, viele dunkle... dunkle. An manchen Gräbern hat sie gestanden, viele arme Seelen begehren ihr Gebet. Die Alte bleibt stehen und seufzt schwer. Sie muß etwas verschnaufen. Müde ist sie, so seltsam müde. Irgendwas zerpreßt ihr den Atem. Wenn sie nur nicht krank wird! Just so eine Nacht ist es auch gewesen, als ihr Taugenichts von Mann sie mit den Kindern in der Trunkenheit aus dem Hause warf.. ., nachdem er sie halbtot geschlagen! Im Chausseegraben hat sie damals nächtigen müssen. Das eine der armen Würmchen hat sich dabei den Tod geholt. Und nicht lange danach ist eines Nachts der arbeitsscheue Trunkenbold mit dem unsteten Sinn auf und davon gegangen — in die Welt hinaus. . . hat sie im bittersten Elend sitzen lassen. Wohin? Sie weiß es nicht. Nie wieder hörte sie von ihm. Er blieb verschollen, Jahre und Jahre hindurch. Bis einmal der Pfarrer aus irgend einer fremden Stadt einen Brief mit seltsamen Marken und Siegeln erhielt. Darin stand der Tod von Matthias Holt gemeldet. Er sei dort im Spital gestorben, nachdem man ihn halb verhungert und erfroren auf der Landstraße gefunden... Gott sei seiner Seele gnädig! Sie hat manchen Rosenkranz für ihn gebetet. Aber — nach dem ersten Schrecken hat sie damals doch erleichtert aufgeatmet — Gott verzeihe ihr die Sünde — daß nun die ständige Furcht aufhörte, er möchte eines Tages zurückkehren. Schlecht und recht hat sie sich ehrlich durchgeschlagen, die Kinder großgezogen. Leid genug hat sie gekostet, ach ja. Der Sohn verunglückt in den Kohlengruben. Die Tochter... ach, die Tochter —! Die alte Frau seufzt tief auf. Sie späht in die weite Heide hinein, die sich zur Rechten endlos dehnt. Wo am Rande Lichter durch die #177 Nacht blinzeln, liegt der Heidehof. Dort ist ihre Tochter in Dienst — die „rote Gritt“, wie sie bei den Burschen heißt, mit denen sie Sonntags tanzt. Die rote Gritt! Sie ist das Aergernis der Gemeinde, hat Kummer und Schande über die Mutter gebracht. Und weiß der Himmel, was man noch an ihr erlebt! Sie ist nicht bösartig und schlecht, die Gritt — nein. Aber sie hat leichtsinniges Vagabundenblut in den Adern. Steckt wohl vom Vater her in ihr und — und ... Das alte Weiblein senkt reuevoll den Kopf —ach Gott, wie könnt' die arme Gritt anders sein! War doch sie selber, die Kathrin, in ihrer Jugend eine gar lustige, leichtsinnige Dirn, die allen Burschen den Kopf verdrehte! Wo nur irgendetwas los war die Kathrin mußte dabei sein! Freilich, die Ehe hat sie schnell zahm gemacht. Als verlassene Frau und Witwe hat sie schwer mit des Lebens Not gerungen, ist gottesfürchtig und ergeben geworden. Aber dennoch: der Gedanke an ihre Jugend¬ zeit ist ein ständig nagender Vorwurf. Ach Gott, sie muß viel für die Tochter beten, daß sie wieder auf den rechten Weg kommt ... Stärker prasselt der Regen. Der Wind peitscht ihr die kalten Tropfen in das Gesicht. Die nassen Röcke schlagen um ihre hageren Knie. Kälte schauert bis in die Knochen. Sie versucht den Schirm aufzuspannen — unmöglich, ihn zu halten bei dem Sturm. So schiebt sie nur den dicken Knoten ihres Kopftuches schützend vor den Mund und tappt weiter, immer weiter. Vor ihr ein Rattern und Sausen. Zwei Lichtpunkte tauchen auf, die rasch wachen und grellen Schein vor sich werfen. Sie hastet zur Seite — und vorüber wiedie wilde Jagd rast das fauchende Ungetüm. Die Landstraße führt jetzt mitten durch dichten Tannenwald. Zu beiden Seiten des Weges steigt der Wald hoch empor, in starrender, rabenschwarzer Finsternis. Das sieht aus, als ginge es in eine unheimliche Schlucht hinein, in der Schrecken und Tod lauern. Schon bei Tage scheuen die Leute dies Wegstück, bei Nacht ginge keiner hindurch. Und auch die alte Botenfrau faßt unwillkürlich hier den Rosenkranz

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