Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1937

271 Der Redner. Von Henriette Brey. Kristall und Silber, Wolken weißen Flieders, gedämpfte Musik, lichte Fest¬ gewänder, frohe Gesichter — und als Mittelpunkt das selige Brautpaar. Die kleine Hochzeitsgesellschaft war in bester Stimmung, aber noch hielt der weihevolle Nachklang der ernster gefärbten Brautrede die Geister des Frohsinns in Bann. Die zweite Rede stieg: auf die Eltern. Ah, der junge Professor Brink aus Freiburg! Bildschöner Mensch, stellten die Damen fest. Interessanter Kopf, Züge voll Geist und Wille. Und—welch tiefes Gemüt mußte er haben! Das waren echte Herzenstöne, die er anschlug. Seine Stimme vibrierte in den Tiefenlagen. Gebannt lauschte die Ge¬ sellschaft. „Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden! heißt es in einem innigen Lied, das Sie alle kennen. „Nicht allen auf dem Erdenrund ist dieses große Glück beschieden.“ Wahrlich, ein „großes Glück'. Doppelt glücklich aber darf sich schätzen, wer noch beide Eltern sein eigen nennt. Sie, verehrtes junges Paar, erfreuen sich dieses Glückes — ja, jeder von Ihnen gewinnt heute ein zweites Elternpaar. An der Schwelle eines neuen Lebens stehend, werden Sie in dieser Stunde dankerfüllt der Hüter und Schützer Ihrer Kindheit und Jugend gedenken: der Eltern an Ihrer Seite, die in treuester Liebe Sie bisher umhegten. Wer hätte auch größeres Anrecht auf Dankbarkeit als der Vater, der ein ganzes Leben in selbstlosem Sorgen und Schaffen für das Wohl der Kinder sich bemüht. Als die Mutter, die in aufopfernder Liebe uns hegte und pflegte, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht — wie der Dichter es so ergreifend schildert: Es trifft der junge Morgen die Mutter unter Furcht und Sorgen. Sie hat die ganze Nacht an ihres kranken Kindes Bett gewacht. Es schlägt die Augen auf — es lebt! Der stummen Lippen leiser Zug verrät der Mutter stummes Dankgebet, das hin durch alle sieben Himmel schwebt“ Die grauhaarige Frau am anderen Ende der Tafel, deren altmodisches „„ schwarzes Seidenkleid seltsam von den vornehmen Toiletten der anderen abstach, blickte unverwandt auf den Redner. Es zuckte bitter in ihrem Gesicht, als er die Mutterliebe verherrlichte. All diese schönen, scheinbar in echtem Gefühl gesprochenen Worte ach, das waren eben bloß Worte. Leere Worte ohne tiefere Bedeutung für ihn. Niemand wußte das besser als sie —denn: der so sprach, war ihr Sohn. Ihr Sohn, für den sie alles geopfert — für den sie gearbeitet und entbehrt hatte, Jahre um Jahre. Um seinetwillen war ihr Gesicht vor der Zeit gealtert, waren ihre Hände rauh und runzelig ... war dies veraltete Kleid ihr bestes Gewand. Der Witwe der kleinen Beamten war es nicht leicht geworden, die Mittel zum teuren Studium des Sohnes aufzubringen. Doch Mutterliebe erzwang das Unmög¬ liche. Sie hatte gekargt und gedarbt, oft heimlich gehungert . . . Und jetzt, wo er in Amt und Stellung war sie hatte gewähnt, er würde sie zu sich nehmen, ihre Opfer mit Kindesliebe lohnen . . ., er, der so schön von Dankbarkeit zu reden wußte! Aber, oh, das kühl=verlegene Wort: „Mutter, das mußt du einsehen: du passest wirklich nicht in die Kreise hinein, in denen ich mich bewegen muß! Und wie hatte dieser Sohn nicht heute morgen gesagt — er war erst gestern : „Du willst doch wohl nicht von der nahen Universitätsstadt herübergekommen in dieser vorsintflutlichen Fahne zum Fest gehen, Mutter? Dann bleib lieber zu Haus und mach dich nicht lächerlich!“

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