Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1936

367 Südtirol! Von Louisa Stoll=Jagersberger. Ratternd stampfen die Räder über die Schienen, eine mondhelle Nacht macht die Reise zu etwas unwirklich Schönem, Geisterhaftem. Ueber Flüsse verstreut der lachende Mond sein gelblich fahles Licht, läßt sie gleich einem silbernen Band aufblinken und gleich wieder versinken. Düstere Wälder fliegen vorbei, schlummernde Ortschaften, Stationen mit matt erleuchteten Perrons, gigantische Bergriesen in unwirklich erscheinenden Dimensionen. Alles dies in wahn¬ sinniger Schnelligkeit hinter sich lassend, eilt der Fernzug durch die Nacht. Endlich dämmert der Morgen fahl im Osten, immer deutlicher tritt Ortschaft um Ortschaft aus dem Bereiche der Nacht, bis die Sonne mit ihren goldenen Strahlen alles überflutet und gleichsam wie blankgeputzt vor die schlaftrunkenen Augen des nächtlichen Reisenden hinstellt. Hurtig reibt sich dieser das letzte Restchen Schlaf aus den brennenden Augen, läßt die würzige Morgenluft zum Fenster herein und sieht stumm ergriffen Gottes wunderbare Schöpfung in klaren Umrissen von unnachahmbarer Schönheit vor sich. Liebliche Täler, grüne Auen, gigantische Bergriesen in ihrer taghellen All¬ gewalt, leuchtende Schneelawinen, unter Geröll begrabene Baumriesen, zu Tale getragen von gischtenden, lärmenden Wildbächen, herbe Vernichtung und liebliches Auferstehen dicht beieinander. Immer tiefer ins Herz der herrlichen Alpenwelt führt den Reisenden das nimmermüde Dampfroß mit dem ewig gleichen Rhythmus seiner arbeitenden Räder, bis die italienische Grenze erreicht ist. Erst muß der Reisende freilich das lebhafte Treiben einer Grenzstation über sich ergehen lassen, ehe seine Füße den geheiligten Boden Südtirols betreten dürfen. In Sillian, der eigentlichen Landesgrenze, werden dem Reisenden die Pässe abge¬ nommen, in San Candido (Innichen) bekommt er sie vor Abfahrt des Zuges wieder. Ein prachtvolles Bild bietet der Bahnhof von San Candido mit seinen grauen Steinmauern, weil dicht hinter ihm die beginnende Dolomitenwelt aufsteigt, erhaben und beängstigend zugleich, mit den schroffen Felszacken, den Schrummen und Klüften, den tausenderlei Schönheiten und Gefahren, den lockenden Reizen und herben Kriegserinnerungen. Mittlerweile geht die Zollrevision vor sich. Neugierige Köpfe erscheinen an den Fenstern der bereits revidierten Wagen, Türen werden auf= und zugeschlagen, niemand darf vorerst aussteigen, ein buntes, belebendes Bild für den stillen Beobachter. Alle Aufschriften am Bahnhof sind bereits italienisch, das Bahnpersonal spricht kein deutsches Wort mehr, das österreichische Personal rüstet zur Rückfahrt, es geht wieder heim. Wir dagegen verlassen nun den Bahnhof, weiter geht die Reise, für mich nur bis Dobbiaco, dem ehemaligen Doblach, welches wir in Kürze erreichen. Froh, nach so langer Fahrt wieder auf eigenen Füßen stehen zu können und per pedes die Schönheiten der Alpen zu erreichen, verlasse ich frohgelaunt den Zug. Das Firmament strahlt in einem wundervollen Blau, heiß und sengend brennt die südliche Sonne, erdrückend nahe sind die Bergriesen der Dolomiten, immer gewal¬ tiger, immer fordernder werden sie, je näher man ihnen kommt. Ueber Doblach brütet die Mittagssonne; scheinbar ist jedes Leben erstorben, eine starre Ruhe liegt über dem Orte, alles Leben spielt sich zurzeit wohl nur in denHäusern ab. In mir erstehen urplötzlich die grausen Bilder des Krieges, die sich so schwer einen lassen mit dem Frieden und der Ruhe des idyllisch schönen Ortes. Feierlich ertönen die Mittagsglocken der schönen Kirche, spitz ragt der Turm auf, abends gleicht er einem Riesenfinger, der drohend zu den Bergriesen emporstrebt, gleichsam warnend in stummer, aber um so beredterer Sprache: Hütet euch, ihr Menschen, vor Hader und Zwist. Eint euch in Gottes schöner Welt. Nicht Kanonendonner und

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