Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1936

366 Straße, an der an einer Mauer dicht neben dem Hutgeschäft ein Bettelmädchen steht, in ein dünnes, geflicktes Kleidchen gehüllt. Ach, das Mädchen bettelt nicht. Es steht nur da, weil es so müde und hungrig ist und daheim kein Platz für sie ist, und wenn ihre traurigen Augen ihr ab und zu eine kleine Münze in die Hand gleiten lassen, zuckt es jedesmal erschrocken zu¬ sammen. Dieses arme Kind hört nun die Amsel singen... wie verzaubert horcht die Kleine auf das süße Vogelstimmchen! Was das alles in ihr auferweckt! Eine Saite beginnt in ihrer Brust zu klingen und mitzuschwingen, oh, sie hat gar nicht geahnt und gewußt, daß man solches emp¬ finden kann! Ein süßer Glaube durchdringt das Mädchen, daß nun alles besser werden würde, ein beseligendes Hoffen und eine alles umfassende Liebe an das Leben. Das ist der Frühling... Oh, dem Bettelmädchen ist es, als müßte sein Herz zerspringen vor der Macht und Fülle der sie ganz überströmenden Empfindungen. Es fühlt, es erlebt den Frühling aus einer kleinen Amselstimme ... Wie unermeßlich reich ist das arme Mädchen doch! * Da übertönt den Gesang des Vögleins das Ratterneines Autos... Hier vor dem eleganten Hutladen hält das Gefährte, dem ein vornehmes Paar entsteigt. Sie treten vor das Schaufenster. „Ich will doch sehen, was Madame X. für diesen Frühling für neue Schöp¬ fungen kreiert hat!“ meint die in einer Wolke aufdringlichen Parfums schwebende Dame mit den auffallend roten Lippen und studiert nun eingehend die Auslagen. „Sieh, dies hier,“ meint der Herr, „oder jener dort! Sind ganz aparte, ge¬ schmackvolle Stücke ... „Zu einfach!“ sagt die Dame geringschätzig, „und zu billig! Für 50 Schilling kann man doch unmöglich einen anständigen Hut bekommen! Ich brauche ganz Fabelhaftes, Schickes, Einmaliges! Ich muß doch wissen, daß es Frühling ist, und der ist nur einmal im Jahre ...!“ Wieder eine kleine Atempause im Straßenverkehr, in der das Amselflöten aus nahen Park hörbar wird. dem Der Herr, der sich offenbar langweilt, horcht sichtlich erfreut auf. „An diesem Vogelstimmchen könntest du auch erkennen, Liebling, daß der Lenz gekommen ist!“ „Du bist ja verrückt!“ entgegnet die Dame unwillig. „Der Vogel geht mir auf die Nerven und du dazu, da wäre mir die Hupe des neuen Citroen=Cabriolets, das du mir versprochen hast, schon lieber zu hören! Aber wenn du mir jetzt den kaprizi¬ öfesten und teuersten Hut kaufst, so will ich wieder versöhnt sein!“ So treten die beiden in den Laden. Das kleine Bettelmädchen draußen, das jedes Wort der zwei gehört, legt die Hände ineinander, als ob es sie ringen wollte. Es dauert sie diese vornehme Frau ... Hunger, Not, Sorge, Entbehrungen aller Art erscheinen dem armen Ding mit einem Male als gar nicht von Belang; denn innerlich ist es ja so reich — und dasist die Hauptsache. Sie weiß, daß, wenn jene Dame auch den kostspieligsten und schönsten Hut be¬ sitzen würde, der alle ihre Erwartungen noch überträfe, sie doch arm, ganz arm gegen sie, die arme Kleine, wäre, denn der Gesang eines Vögleins vermag ihr nichts zu sagen. Wem die Seele leer bleibt, der kann sich die teuersten Modeschöpfungen kaufen und er wird immer arm sein. Und wer nicht den Frühling aus seinen reinsten Quellen zu trinken vermag, für den gibt es keinen Frühling.

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