Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1936

340 Alle Rechte vorbehalten. Die territoriale Entwicklung der Stadt Steyr. Von Oberbaurat i. R. Ing. Friedrich Berndt. Wenn wir in der Umgebung des Stadtkernes wandern, werden uns seitlich der Straße große, aus rötlichem Kalkstein gehauene Steine auffallen. Auf der einen Seite zeigen sie in schöner Plastik ein Wappen mit dem steyrischen Panther, auf der anderen Seite den österreichischen Bindenschild. Die auf den entsprechenden Seiten eingehauten Buchstaben 8. 8. und H. S. sagen uns, daß der Panther das Wappen der Stadt Steyr, der Bindenschild das der kaiserlichen Herrschaft Steyr bedeute. Die Jahreszahl 1614 gibt das Jahr der Versetzung des Steines an. Dann ist noch die Nummer des Steines ersichtlich. Die wenigsten Steyrer werden wissen, was diese schönen Steine für eine Be¬ deutung hatten. Stehen sie doch teilweise außerhalb des jetzigen Stadtgebietes. Und doch waren sie einst die Grenzmarken der Stadt. Wie es zu diesen Grenzen der Stadt kam, was diese Grenzen bedeuteten, wie sichdie Lage und Bedeutung der Grenzen im Laufe der Jahrhunderte änderten, dassoll in den folgenden Zeilen den Lesern klargemacht werden. Um die Entwicklung des Stadtgebietes in ältester Zeit zu verstehen, ist es not¬ wendig, sich über die damals herrschende Einteilung der Gerichtsbarkeit ein Bild zu machen. Oberster Richter war der Landesfürst. Er hatte die Oberaufsicht über das ganze Land in Ansehung der Steuern und Abgaben, in militärischer Hinsicht bei Kriegen und Empörungen. Ihm unterstanden die Landrichter, welche in ihrem Gebiete die hohe Gerichtsbarkeit innehatten und über Leben und Tod angeklagter Untertanen entscheiden konnten (Blutgerichtsbarkeit). Es waren oft die in diesem Gebiete meist¬ begüterten Adeligen. Ihnen waren die übrigen Herrschafts= und freien Grundbesitzer des Gebietes gerichtsuntertänig. Die Herrschafts= und freien Grundbesitzer aber hatten die niedere Gerichtsbarkeit über ihre Grundsassen. Sie vergaben Teile ihres Grundes an neue Siedler in Bauleihe. Der Siedler war also Eigentümer seines Hauses, nicht aber des Grundes, auf welchem es stand, und mußte dem Grundherrn an einem be¬ stimmten Tag des Jahres bei scheinender Sonne den Grundzins (verzickten Dienst) leisten. Konnte er dies nicht, fiel nach einer bestimmten Zeit (drei Wochen) Grund und Haus dem Grundherrn zu. Der Hauseigentümer konnte sein Haus mit Zu¬ stimmung der Grundherrschaft verkaufen, verschenken, vererben usw. Der Vertrag wurde von der Grundherrschaft gefertigt. Durch Verweigerung der Fertigung hatte der Grundherr seine Holden vollkommen in der Hand. In früher Zeit konnte der Grundholde nur mit Bewilligung des Grund¬ herrn heiraten. Letzterer hatte auch das Erbrecht auf den Nachlaß, Später wurde dieses harte Recht gemildert und der Grundherr erhielt im Todesfall des Holden das beste oder zweitbeste Stück Vieh. Der Grundholde mußte auch seinen Bedarf an Lebensmitteln, Kleidung und Hausgeräten von der Herrschaft beziehen. Die Stadtsiedler waren von diesen drückenden Bindungen befreit. Das Sprich¬ wort „Stadtluft macht frei“ stammt aus der Zeit der Stättegründungen. Als die Stadt einen größeren Burgfried erhielt, der Gründe verschiedSer Herrschaften mit einschloß, begann der Kampf mit den Herrschaften, um den neuen Bürgern gleiche Rechte, wie sie die alten Stadtsiedler besaßen, zu verschaffen. Die Stadt war zu einem eigenen Gerichtsbezirk geworden, dessen Grenzen die Burgfriedsmarken angaben. Die Gründe der Herrschaften bildeten kein geschlossenes Gebiet, sondern waren in verschiedenen Landgerichtsbezirken zerstreut. Dies machte nicht nur den Herr¬ schaften die Verwaltung schwierig, sondern auch dem Lande. Zur Zeit der Regie¬

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2