371 Kain und Abel. Von Henriette Brey. Die Treppenbuchtung des vielfenstrigen Mietshauses gähnte wie eine lichtlose Höhle, die gierig alles Leben einsaugt. Als der junge Mensch in blauer Schlosserbluse die Stufen hinansteigen wollte, hörte er sich angerufen. Der Briefträger hatte die Haustür hinter ihm wieder ge¬ öffner. „Hier, Karl, nimm das deinem Bruder mit, da kann ich mir die vier Treppen ersparen.“ Karl Steins sah auf den dicken gelben Brief. „Wohl wieder so'n Wisch zurück, lachte er verächtlich. „Wenn er doch bloß sein verrücktes Geschreibsel endlich lassen wollte! Bildet sich ein, er wär' ein Dichter!“ „Nu ja!“ schupfte der alte Lohkämper die Achseln. „Is ja ein armer Kerl, der Albert. So'n halber Mensch! Wenn so einer ant Spintisieren kommt . .. Schad um all dat schöne Porto! Na, gib et ihm schon, gelt?“ Und stapfte davon. Langsam stieg Karl Steins empor. Es hatte heute im Maschinenwerk beson¬ ders anstrengende Arbeit gegeben. Die Muskeln zitterten ihm vor Müdigkeit. Dennoch waren seine meist finsteren Augen heute von einem Innenlicht erhellt ge¬ wesen. Denn . .. er hatte an der Straßenecke zufällig sein Mädel getroffen * * * Seine kleine Mine! Frisch und sonnig wie der lebendige Frühling in ihrem Wasch¬ kleidchen, lerchenfröhlich. Ach, wann würde er an eigenes Nestbauen denken können! Und plötzlich, da der gelbe Brief in seiner Hand knisterte, war es, als habe er in ein Nest voll Schlangen getreten, so heftig züngelte unvermutet Haß und Wut in ihm auf. Haß gegen den Zwillingsbruder! Dieser Nichtstuer! Dieser wehleidige Tagedieb! Sogar zum papierenen Tage¬ löhner als Schreiber auf einem Bureau war er zu armselig. Saß da und kritzelte an — der unnützige Esser! seinen irrsinnigen Ausgeburten, der Und die Mutter ah, die Mutter hörte ihm noch andächtig zu, ganz Be¬ wunderung. Und flüsterte gerührt: „Wie Vater selig! Der war auch so ein Schöngeist! Für ihn, den Karl, hatte die Mutter nicht diese zarte Umsorgung, haha! Er warja gesund. Er konnte arbeiten! — O ja, das konnte er! Von seinem Ver¬ dienst allein lebten sieHimmelfern der eigene Herd, das eigene Glück! Karl Steins umgriff das Treppengeländer mit krampfigen Händen. Seine Kiefer mahlten knirschend aufeinander. Dann hob er düster die Stirn. Wo in aller Welt geschah es wohl, daß Zwillinge sich haßten? Der gesunde den Lebensunfähigen, Lebensuntüchtigen haßte — den verwachsenen Schwächling! Ihm die Mutterliebe neidete. Ja, neidete! — Aus Karl Steins Brust brachen stoßweise aufs neue die Haßwellen hervor, die ihm oft blutrot vor Augen schwammen, wenn er die Mutter zärtlich um den bleichen Albert sich mühen sah. Er stieg weiter. Auf dem zweiten Treppenabsatz hielt er inne, preßte die Stirn an die Scheibe des Gangfensters, stützte die Hände auf die Fensterbank. Atmete keuchend, von abgründigen Vorstellungen bedrängt. Der Brief entfiel ihm. Er trat mit dem Fuß daran, wie nach giftigem Gewürm. — starrte darauf nieder. Wieder eine Arbeit zurückgesandt be¬ Hob ihn dann auf kommen, wie jedesmal seit Jahren. Höhnisch lachte Karl. Weshalb der Mensch das haha! Schreiben nicht aufgab? Man wollte ihn nicht. Er kriegte doch alles zurück — Und hockte dann tagelang wie ein gerupfter Vogel. Und die Mutter umstrich ihn: „Mut, Albert! Mein armer Junge. Sei nicht traurig. Einmal kommt der Erfolg. Sie werden noch zu dir aufschauen. Ja.“ Herr des Himmels, mit den Fäusten sollte man dreinschlagen! Finster stierte Karl auf den Brief. Und bemerkte plötzlich: er klaffte an einer Seite. War nur oberflächlich zugeklebt. Mal sehen, wie man dem „Dichter“ den Hochmut austrieb!
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2