369 Drei Sagen aus dem Ennstal. Von Maria Mittermayer nacherzählt. Das Marienstöckl. Auf etwa halbem Wege zwischen Weyer und Kastenreith grüßt den Wanderer auf der Bahnpromenade ein liebliches Marienbild unterm Materldache. Fast immer stecken davor Blumen, von sorgender Hand gebracht. Den Ursprung verdankt dieses Bildstöckl der Sage nach folgender Begebenheit: Vor längerer Zeit stand unweit dieser Stelle ein Häuschen, worin eine Witwe mit ihren Kindern hauste. Die älteste Tochter, Cäcilie, ein bildschönes Mädchen, hatte die Unschuld verloren und sollte Mutter werden. Als die Witwe davon erfuhr, wurde sie rasend wild auf das Mäd¬ chen. Eines Morgens fand man Cäciliens Stübchen leer. Im sumpfigen Wiesengrunde vom Häuschen weg fand man Fußspuren. Man verfolgte sie und erblickte das tote Mädchen am Bache, in den Weiden hängend. Es war ertrunken. Da raufte sich die Mutter die Haare und klagte sich in Selbstvor¬ würfen der allzu großen Härte an. Sie begann zu trinken. Die Branntweinflasche wurde ihre Begleiterin. Einige Zeit nach Cäciliens Tod zündete die Witwe das Häuschen an, denn sie konnte nimmer mitansehen, daß dort, am Wege zum Bache, wohin Cäcilie am Todestage gegangen, des Nachts kleine Lichter aufhuschten, bis zu den Weiden am Bache. Dies rüttelte das Gewissen der herzlosen Witwe auf, daß sie gar nimmer bleiben wollte. Nach dem Brande erschienen auch anderen Leuten diese Lichtlein und sogar der halbzerfallenen Mauer der Brandstätte irrlichterte es herab. von Da riß man die Mauern ab und setzte an den Platz, wo die Lichtlein zu wan¬ deln begannen, das Marienbildstöckl, das uns heute noch, mit dem wunderbarem Hintergrunde der Berge, auf dem Wege nach Kastenreith entgegenblickt. * Der Fels in Kastenreith. In Kastenreith, nahe den Ennsbrücken, fallen überhängende Felsblöcke ins Auge. Vor einigen Jahrzehnten wurden die gefährlichsten Felsen gesprengt. Auch heute noch sind manche Stellen nicht geheuer und es bleibt dahingestellt, ob nicht der Sicherheit halber noch manche Felspartien schwinden müssen, die jetzt die Um¬ gebung so romantisch gestalten. Es war im neunzehnten Jahrhundert. Da ging abends eine Frau am Ufer der Enns, als sie ein Raunen unter einem überhängenden, Felsblock vernahm. Bald vernahm sie deutlich die Worte: „Seine Zeit ist aus.“ Sie sah um sich, aber nirgends konnte sie ein menschliches Wesen erblicken. Wieder vernahm sie die tiefe Stimme: „Seine Zeit ist aus — und er kommt noch immer nicht!" Da erfaßte sie die Angst und sie lief nach Hause. Daheim lachte man über ihr Davonlaufen und schalt sie eine Träumerin. In der Nacht weckte die Bewohner von Kastenreith ein Tosen, Rollen und Poltern. Die Aengstlichen glaubten, die Erde bebe. Mit Laternen und „Flößer¬ sappeln“ eilten die Leute zur Stelle, woher das Rollen gekommen war. Ein über¬ hängender Fels hatte sich gelöst und war zum Teile im Ennsflusse verschwunden, zum Teil lagen die Felsmassen auf der Straße, dort, wo abends die Frau eine Stimme vernommen hatte. Man hoffte, daß niemand verschüttet war, da in der Nacht Wenige auf dieser Straße zu gehen hatten. Aber nach einigen Stunden grub man einen Wander¬ burschen aus, der zwischen Felstrümmern gelegen hatte, unterm Kopfe den Ranzen, neben sich den Wanderstecken. Er war im Schlafe erdrückt worden. Seine Zeit war aus. * 3 * Die dritte Sage erzählt, woher der Dürrnbach seinen Namen habe. Von diesem Bache, der im Mittelpunkte des Ortes Weyer in die Gaflenz mündet, hatte vor 25
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