378 Unwirklichen empor, löschte die Gegenwart — und die lange Wegstrecke zwischen jenem Einst und dem Heute. Der eine Tag sah sie wieder an. Schwester Celesta mußte ihm in die Augen schauen, ihn im Geiste wieder durchleben — um irgend einer For¬ derung, die aus Herztiefen sich aufreckte, genugzutun. Um sich Rechenschaft zu geben. Damals Hatte es jene Zeit ungeheurer Hochspannung voll Erschütterung und Leid und Opferbereitschaft — der vier zermürbende Jahre Volksverblutens — — folgten wirklich gegeben? Die langen Jahre gleichmäßig einförmigen Klosterfriedens hatten allmählich einen Schleier darüber gewoben. Man dachte nicht gern daran zurück, man konnte das furchtbare Geschehen kaum noch lebendig machen. Aber nun schärfte sich Schwester Celestas Erinnern wieder. Klar und scharf umrissen trat jene Zeit vor sie. Sie hieß wieder wie damals Elisabeth Olten. Und Schwester Celesta schaute dieser Elisabeth Olten wie einem fremden Menschen zu. Sie spürte Elisabeths Trauer, ihr Abseitsstehen. Sie sah Elisabeth wieder am Fenster sitzen und in die Abendsonne starren, die in fließende Ströme rotglühenden Goldes sank. Oder war es Blut? Vorbedeutung von Hekatomben an Blut¬ opfern? Elisabeth Olten hatte am Bahnhof mitgeholfen, denen, die hinauszogen um der Heimat willen, zu dienen, mit Erfrischungen und mit lieben Worten. Was hatte sie alles geschaut an todesmutiger, ja begeisterter Opfergesinnung! An ergreifendem Abschiedsweh. Und sich fast geschämt, daß von ihr selbst kein persönliches Opfer gefordert wurde. Andere, o andere gingen in dieser Zeit mit geröteten, leiddunklen Augen, trugen den Kronreif des Schmerzes. Bangten um Gatten, Vater, Bruder, Verlobten oder sonst einen lieben Menschen. Elisabeth Olten sah bleich vor sich hin, spürte wieder ihr Ausgeschlossen¬ sein von dem großen Strom des Gemeinsamen. Sie stand allein in der Welt. Wenn sie ihre leere Wohnung betrat, flog ihr kein lieber Blick entgegen, fragte niemand, ob ihr wohl oder wehe sei. Auch jetzt, wo es hieß, Unge¬ heures zu tun und zu tragen — stand sie außerhalb des Schicksalskreises. Hatte keinen, der zu ihr gehörte, um den sie bangen, für den sie beten und sorgen mußte. Keinen? ... Es durchzuckte sie plötzlich. Gab es nicht einen, dem es höchstes Glück bedeutete, ihr Los an das seine knüpfen zu dürfen? Einen, der auch einsam stand im Leben: Josef Grauthoff, der Gespiele ihrer Kind¬ heit, der sie umwarb in stummer Treue. Trotz ihres Abweisens hoffte er immer noch, hoffte in unwandelbarer Hingabe. Elisabeth wußte, heute oder morgen würde es kommen, Abschied von ihr zu nehmen. Sie seufzte beklommen. Ach, wenn er dann nur nicht wieder diese eine Frage an sie richtete, immer die eine! Sie konnte ihm ja keine andere Ant¬ wort geben, so weh es auch tat. ** Ein anderer hatte an ihrer Seele Tor gepocht: der Herr der Ewig¬ keiten! Sein Ruf war in ihr erklungen, leise werbend, süß lockend stark, unerbittlich, unablässig. In Einsamkeit und mitten unter Menschen. „Komm! komm! Veni sponsa!“
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