Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1931

371 Nicht ein einzelner, nicht die vereinte Kraft der ganzen Rotte vermochte die Hände zu öffnen. Schäumend vor Wut führte einer einen entsetzlichen Streich und spaltete dem treuen Bekenner das Hinterhaupt. Ohne einen Laut von sich zu geben, sank der Martyrer zusammen. Und da er noch lebte, stießen sie ihm Schwerter und Dolche in die Brust. Raubgierig wollten sie nun den Speisekelch mit dem begehrten Inhalt den leblosen Händen entreißen, doch — der Tote ließ ihn nicht! Zu mehreren vereint rangen sie mit fast übermenschlicher Kraft im Schweiße ihres Ange¬ sichts, stöhnend und keuchend — aber wie eisenfeste Klammern umspannten die Hände des toten Martyrers das Ziborium. Da fuhr der Schrecken in sie. Scheu wichen sie zurück und starrten auf den blutüberströmten Toten. Dann schleiften sie die Leiche aus der Kapelle und warfen sie draußen in die reißenden Fluten der vorbeiströmenden Gave. Sofort sank der Körper unter, und erleichtert wollten die Mörder sich ins Haus zur Plünderung begeben. Aber — da tauchte er schon wieder auf und lag auf dem Rücken ausgestreckt und schwamm auf den Wellen dahin, als liege er auf einer Bahre! Das unverletzte Antlitz Pater Adalberts zeigte Ernst und Frieden. Die Hände waren um das Sanktissimum auf seiner Brust gekreuzt! Von den Wellen gewiegt und getragen, schwamm der Leichnam ruhig auf der Oberfläche des Wassers den Fluß hinab, seinen Gott auf dem Herzen — wie ein Altar. Die Bösewichte standen starr, als sie das Wunder sahen. Es graute ihnen. Aber sie wagten nicht, den heiligen Leib in seinem Laufe aufzuhalten. Aber auch andere Leute kamen herbeigelaufen und sahen staunend das Wunder — den treibenden Toten mit dem Allerheiligsten auf der Brust, von blutenden Händen umklammert. Ergriffen standen sie, aber sie hatten eine heilige Scheu, den Toten ans Land zu ziehen und das heilige Sakrament zu berühren. Sie begleiteten also rechts und links des Flusses die Leiche, betend und Gott preisend. Immer mehr Leute kamen herzu, die dem schwimmenden Kapuziner das Geleite gaben. Als man zur Stadt Bayonne kam, liefen Hunderte heran und schlossen sich der rührenden Prozession an. In der Nähe dieser Stadt stand ebenfalls ein Kapuzinerklösterchen, wie das in Orthez, dicht am Flusse; die Mauern ragten ins Wasser. Als die Leiche bis hierher kam, machte sie plötzlich eine Wendung und trieb aus der Mitte des Flusses zum Ufer bis unter die Mauern des Klosters — und hielt an! Da erkannten alle, daß hier seine Ruhestätte sein sollte. Die Brüder kamen herzu und erkannten mit Tränen den Guardian von Orthez. Aber Freude erfüllte ihr Herz ob des Wunders. Doch niemand wagte es, vor Ehrfurcht, den Martyrer zu berühren, welcher das Allerheiligste über die Fluten trug. Indessen waren schon Tausende und Abertausende zusammen¬ geströmt. Die ganze Stadt geriet in Bewegung. Es entstand ein großer Jubel ob des hehren Wunders. Alles rief begeistert: „Hochgelobt und gepriesen sei das hochheilige Sakrament des Altares in Ewigkeit!“ Eine große Prozession zog von der Kathedrale aus. Der Bischof, die und ganze Geistlichkeit, alle Stände und Innungen mit flatternden Fahnen Alle Bannern, mit Weihrauch und brennenden Kerzen beteiligten sich. Glocken läuteten — es war, als zöge man einem großen Monarchen ent¬ gegen. Ungeheuer war die Begeisterung und Rührung des Volkes.

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