Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1930

378 des Winters langer Qual genießen lassen. So nebenbei fährt man Parade, wie man auch gern ein neues Kostüm spazieren führt. Ein Zwillingskinderwagen zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Und mancher Blick folgt ihm. Im Vorübergehen schaue ich hinein. Die Kinder zum Verwechseln ähnlich! Allerliebste Blondköpfe mit Blauaugen! Jungen oder Mädchen? Oder Junge und Mädchen? Wer weiß! Ich kann die Mutter doch nicht gut fragen. Was ist nun besser? sinniere ich im Weitergehen. Da fällt mir eine Geschichte ein, die zeigt, daß die Aehnlichkeit bei gleichem Geschlecht fatal werden kann. Hans und Heinrich Wender waren Zwillinge, die man fast gar nicht unterscheiden konnte. Dabei waren die beiden meistens auch noch gleich gekleidet. Wenn wenigstens noch einer von ihnen eine Narbe oder ein Muttermal als Unterscheidungszeichen gehabt hätte! Aber auch gar nichts, und dabei eine gleiche Stimmlage. Wie oft bekam man zu hören: „Ich bin nicht der Hans, ich bin der Heinrich!“ — oder umgekehrt. Die Aehnlichkeit blieb, als die beiden schon die Zwanzig längst über¬ schritten hatten. Sie kleideten sich, aus Gewohnheit oder aus Absicht, fast gleich. Ein echter Zwillingsstolz! — Der Hans es kann auch der Heinrich sein — schaffte sich eine Braut an. Ein hübsches Mädchen! Gar mancher junge Mann hatte sich um die Schöne bemüht. Eine gereizte Stimmung herrschte unter den Neben¬ buhlern. Das machte nicht nur der Neid, sondern noch mehr die aufreizende Art des Hans (oder Heinrich), der sich stolz des Sieges rühmte. Die Geschlagenen machten unter sich aus, dem Prahlhans eine ordent¬ liche Lehre zu geben. An einem Abend kam das Verhängnis. Der Zwillingsbruder kam heim. An einer einsamen Stelle fielen die Nebenbuhler lautlos über ihn her, gaben ihm eine ordentliche Tracht Prügel. „Was habe ich getan?“ ruft der aus. „Laßt mich los! „Denk an die Anna!“ zischt ihm einer mit verstellter Stimme zu. Dem Armen geht ein Licht auf. „Was geht die mich an! Das ist doch die Braut meines Bruders!“ Ein höhnisches Lachen umschallt ihn. „Der Feigling, jetzt will er seinen Bruder vorschieben, um sich heraus¬ zuziehen. Ne, Männeken, du machst uns nichts weiß! Wie die Geschichte den Zwillingsbruder, der unschuldig die Schläge bekommen hatte, wurmte! Er hatte keine Handhabe, die Uebeltäter zu fassen. Dazu kam der Spott obendrein. Der richtige Bräutigam bedauerte ihn zu¬ nächst. Nach einiger Zeit ging sein Bedauern in hänselnde Bemerkungen über. „Na, Brüderchen, du spürst jetzt ja nichts mehr und hast es einmal fort. Es ist doch gut, daß wir Zwillingsbrüder sind. Man hat so immer einen Stellvertreter! Das mußte den falschen Bräutigam ärgern. Er sann auf Rache. Eines Tages hörte er, wie der Bräutigam sich mit seiner Braut ab¬ sprach, sich nach Feierabend am Rheindamm zu treffen, um bei dem schönen Frühlingswetter einen Spaziergang zu machen. Bald war sein Plan gefaßt. Schnell kaufte er sich eine neue Krawatte, genau so, wie sein Bruder sie jetzt trug. Dann schickte er durch ein Kind ein Briefchen zu Anna. „Liebe Anna! Ich bitte Dich, komme eine Viertelstunde früher. Ich habe mir die Sache anders überlegt. Im Stadtpark muß es jetzt sehr schön sein.

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