Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1930

364 Nun, armes Herz, vergiß der Qual, Nun muß sich alles, alles wenden ... klingt es tröstend und beruhigend. Aber unerbittlich umkrallt die Ver¬ zweiflung seine Seele und läßt sie nicht mehr los. Langsam erhebt er sich und schwankt durch die Anlagen seiner Wohnung zu. Er wohnt in einer der vornehmsten Fremdenpensionen, in der „Villa Rosa“ und hat die letzten Rechnungen noch nicht bezahlt! Er hat heute abend am grünen Tisch den letzten Pfennig verspielt und Ehrenschulden gemacht, die er nie einlösen kann! Sein Name ist gebrand¬ markt. Ohne die geringsten Existenzmittel steht er da, dem vollendeten Ruin gegenüber. Er hat keine Wahl, es gibt keinen Ausweg! Er beißt die Zähne zusammen, steigt die Treppen zu seinem Zimmer empor. Kopfschüttelnd sieht der Portier der schlotternden Gestalt mit dem bleichen Gesicht nach. „Na, der junge Herr Ottersbach scheint's wieder toll getrieben zu haben, murmelt er. „Sieht aus wie ’ne Leiche! Wenn das ein gutes Ende nimmt!“ * * * Zwei Stunden später tönt aus dem letzten Zimmer des langen Ganges einleiser, dumpfer Knall. Ein paar eilige Schatten huschen hin und her. Dann kommt, von dem Zimmermädchen gerufen, die Besitzerin der Pension händeringend herbei¬ gestürzt. Madame ist außer sich. Gott, wie schrecklich! Sie starrt die leblose Gestalt an, die auf dem Teppich liegt. Ringt die Hände. In ihrem Hause! Wie rücksichtslos! Der Schrecken sitzt ihr in den Gliedern; sie muß sich anlehnen. Wenn nur die Gäste nichts erfahren! So ein Skandal! Mit dem guten Ruf des Hauses wär's vorbei! Gut, daß die beiden nächsten Zimmer zufällig leer stehen. Die anderen Herrschaften haben wohl nichts gehört. Sie fühlt sich ganz schwach werden. Der Anblick ist zu grauenhaft. Eine Ohnmacht droht ihr. Kaum hat sie noch die Kraft, ihre Befehle zu geben, dann läßt sie sich vondem Mädchen in ihr Zimmer führen. Beim fahlen Dämmergrau des neuen Tages schleppen zwei Haus¬ knechte einen langen, schweren, in Sackleinen gehüllten Gegenstand die Hintertreppe hinunter "* * An dem Seiteneingang des Hauses, der für die Dienerschaft und die Gemüsefrauen und Händler dient, steht ein kleiner Ziehkarren — darauf wird der unheimliche Gegenstand gehoben und zur öffentlichen Leichenhalle gefahren. Die Leiche eines zerlumpten Betteljungen, der von der Straßenbahn überfahren ist, liegt schon da. Daneben die einer Frau mit qualverzerrten Zügen und weit offenen, glanzlosen, stieren Augen. Man hat sie soeben aus dem Kanal gezogen. In der Großstadt gibt's viele Gestrandete ... * * *

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