Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1929

323 Zu ihr ging ich nimmer oder höchstens in Gesellschaft. Ich konnte den strafenden vorwurfsvollen Blick nicht vertragen. Wenn ich dadurch an den Unterschied zwischen meinem früheren und nunmehrigen Leben erinnert wurde, verfiel ich in eine überaus gereizte Laune. Jedes Streben nach vorwärts war mir abhanden gekommen, ich hatte ja kein erstrebenswertes Ziel mehr, was galt mir das Leben noch? Daß ich nicht zum Selbstmörder wurde, begreife ich fast nicht. Hat ein Gott mich zurückgehalten, der mir doch vielleicht noch bessere Tage bescheren will, oder hat mich das Lasterleben sogar für diesen Schritt zu feig gemacht? Unangenehm fiel es mir auf, daß der junge Maler auch oft in solcher Gesellschaft verkehrte wie ich und an all den Frivolitäten und Gemeinheiten Gefallen zu finden schien, wenn er auch, wenigstens in meiner Anwesenheit, nur ein passiver Teilnehmer schien. Sie hatte gewollt, ich sollte sein Freund sein. Aeußerlich tat ich auch recht freundschaftlich, aber mich stieß es oft ab, wenn seine Dankergüsse gar zu überschwenglich wurden. Meine innere instinktive Abneigung gegen meinen glücklicheren Nebenbuhler suchte ich mir selbst als Eifersucht zu erklären. Nun bin ich aber überzeugt, ich hätte ihn auch dann nicht lieben können, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre. Manchmal bleibt sogar in dem gefallenen Menschen noch ein Rest des natürlichen Abscheus von dem Bösen; freilich vermag der Mensch sich dann über den Grund seiner Gefühle nicht mehr Rechenschaft zu geben. 6. Mord oder Unfall. Morgen muß ich vor meine Richter treten; ich bin des Mordes ange¬ klagt. Deutlich stehen die Ereignisse vor meinen Augen, nur über ein paar Minuten kann ich mir selbst nicht Rechenschaft ablegen — und gerade die sind die wichtigsten. Subjektiv bin ich unschuldig, denn ich hatte nicht die Absicht zu töten, ich kann mich auch nicht erinnern, daß ich im grimmigsten Zorne mich soweit vergessen hätte. Die Anklagebank ist also das erreichte Ziel eines zuerst an Hoffnungen so reichen, dann aber so elenden Lebens. Es war am Todestage meiner Großmutter. Ich fand keine Lust, meine gewöhnlichen Gesellschaften aufzusuchen. Ich wollte zwar alle Erinnerungen, alle Selbstvorwürfe, die ich unwirsch als „moralischen Kater“ bezeichnete, von mir abweisen — aber sie waren stärker als ich. Mich zog es hinaus in die sich neu belebende Natur, immer weicher, reuevoller wurde meine Stimmung, dann ruhte ich an einem lauschigen Plätzchen, von dem aus man das erwachende Land, die schneegekrönten Bergeshäupter überschauen konnte, von meiner Wanderung aus. Dort war ich früher auch so oft gesessen, hatte Pläne geschmiedet und mir die Zukunft so herrlich ausgemalt. Dann überwältigte mich das Gefühl, Tränen stürzten aus meinen Augen, ich barg mein Antlitz im grünen Moose wie ein Kind im Schoße der Mutter. Doch diesmal übermannte mich nicht die Verzweiflung, wohltuende Reue, gute Vorsätze, heiße Bitten erfüllten mein Herz. Als ich zum erstenmale wieder das seelische Gleichgewicht gefunden hatte, kehrte ich gegen Sonnenuntergang in einem ländlichen Gasthause ein, um ungestört mein Abendbrot zu verzehren. In einem Winkel der niederen, schlecht beleuchteten Stube saß eine Gesellschaft von Burschen, denen man in 21*

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