Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1929

318 Tod kennt kein Mitleid; er raubte dich deinem Schmerzenskinde, dem Kinde sündiger Liebe. Die Saat der Sünde gedeiht trefflich; ich könnte teuflisch lachen, würden es mir deine milden Augen nicht verbieten, Großmütterlein. Schlicht und ruhig verflossen die Jugendjahre. Wer hätte es gedacht, daßso stürmische Zeiten sich daran schließen würden? Die Menschheit träumt noch immer von dem goldenen Zeitalter, da noch Friede, Ruhe, Behaglichkeit und Bedürfnislosigkeit herrschten. Erneuert sich nicht in jedem einzelnen Menschen das goldene Zeitalter, wenn über seiner sorglosen Jugendzeit ein liebendes Auge wacht? Ich will euch noch einmal rückerinnernd träumen: wie glücklich ist doch der Mensch, der im Alter sagen kann: „Die schöne Saat der Jugendzeit ist voll herangereift.“ Bei mir hat Hagel und Frost, Hitze und Dürre alles vernichtet; ich stehe da mit leeren Händen — keine Frucht winkt mir. 2. Erste Liebe. Wer vermag in die geheimen Pläne der Schickung einzudringen? Oder gibt es doch eine Vorsehung? Ich habe in den letzten bangen, inhaltsschweren Jahren den frommen Kinderglauben verloren; nur manchmal tönt es in meinem Herzen wie ferner, ferner Glockenklang. Das eine weiß ich: Glücklich war ich, als ich noch glaubte. Wie viel tröstlicher ist der Glaube an eine gütige Vorsehung als die Vorstellung von einem unbarmherzigen blinden Schicksal. — O gäbe es für mich einen Weg zurück ins Wunderland des Glaubens. Als ich zum Jünglinge heranreifte, starb mein Großmütterlein. Wie unsagbar bitter waren jene Tage, wie schrecklich der Augenblick, als die Totengräber den Sarg hinaustrugen aus dem kleinen Stübchen. Ich hatte keine Mutter, keine Heimat mehr. Und am Grabe der Mutter begann auch ein neuer Abschnitt in meinem Leben; der Traum der Kindheit war mit den schwarzen Schollen hinabgefallen, der süßeste Traum, den ein Mensch träumen kann, nahm dort für mich seinen Anfang. Als ich eines Abends wieder am Grabe meiner Großmutter kniete und weinte, ohne aufhören zu können, sprach mich plötzlich ein Mädchen an, dessen schlichte Trostesworte, dessen Frage, wen mir der Tod entrissen habe, so lieb und aufrichtig klangen, als hätte sie ein Engel gesprochen. Ich fuhr betroffen auf; vor meinen nassen Augen zitterte und flim¬ merte es, ich konnte anfänglich kein Wort hervorstammeln. Doch als die erste Bestürzung gewichen war, wagte ich es, der freund¬ lichen Trösterin ins Auge zu schauen. Es war das zweite Bild eines Menschen, das unauslöschlich in meine Seele sich einprägte; welcher Gegen¬ satz! Die verwelkten Züge meiner Pflegemutter, die von so vielen über¬ standenen Leiden sprachen, und die halb entwickelten Züge eines Mädchen, dem noch kein Schmerz sich zu nahen wagte! Jeder wirkliche Liebhaber findet sein Liebchen schön; wenn jenes undefinierbare Gefühl, das wir Liebe nennen, im Menschenherzen Eingang gefunden hat, dann bietet die große, weite Schöpfung dem Einzelnen nichts Holderes. O, ich habe später auch die falsche, die trügerische Liebe kennen gelernt. Sie schien mich zu laben und verdarb mich. Ueber allem „Ersten“ liegt ein unergründlicher Reiz; in unserer Sehnsucht nach dem verlornen ersten

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