317 Ein Beitrag zur Weltgeschichte im idealsten Sinne des Wortesist gewiß die Lebensgeschichte des Einzelnen. Nicht nur aus den Taten der Großen können wir lernen — nein, auch die Schicksale der Kleinen, der Alltagsmenschen, bedeuten treibende Zähnchen im Weltenuhrwerk. Wer sich frei fühlt von solcher Schuld, wie sie in diesen Zeilen geschildert wird, der danke seinem gütigen Gotte; wer aber all die Verzweiflung zu erfassen versteht, in wessen Brust ähnliche Kämpfe tobten oder toben, der lerne! Und damit, lieber Leser, nimm vorlieb! 1. Meine Jugend. Zwischen grauen, kalten Kerkerwänden schreibe ich diese Zeilen. Soviel Menschlichkeit besitzt unser Zeitalter doch, daß es dem Verbrecher in seinen „freien“ Stunden im Gefängnisse gestattet, ein wenig sich selbst zu leben. Wäre ich ein gemeiner Verbrecher, der um seines Vorteiles willen, der aus bloßer Habsucht gefrevelt hätte, so würde ich es der Menschheit nicht verargen, wenn sie mir jede Gelegenheit entzöge, meinen Schmerz, mein inneres Leben zu äußern. Aber Gott sei dank, ich darf in dem Zwielicht meiner Zelle täglich eine Stunde schreiben. Ich empfinde es als Wohltat. Das Sprechen möchte ich ja fast verlernen — was soll ich mit den entmensch¬ ten Geschöpfen reden, die mich umgeben? Und mein Kerkermeister ist in seinemtraurigen Berufe einsilbig geworden. Wahnsinn könnte mich erfassen, wennich zuruck denke. Zuruck! In ein sonniges, freundliches Leben tragen mich meine Ge¬ danken. Heitere Bilder umgaukeln mich in dieser kalten Oede — meine Jugend taucht vor meinem geistigen Auge auf. Blühende Geranien, Fuchsien und Rosen strecken ihre Zweige aus den Gitterstäben der Fenster auf die Straße. Da spielt ein blondlockiger Knabe auf dem Bürgersteig — der Knabe, der bin ich. — Dann erscheint ein Kopf zwischen den Blumen; Silberhaar glänzt aus dem frischen Grün der Blätter ein freundlicher Gegensatz; zwei seelengute blaugraue Augen blicken voll heimlicher Freude auf den Buben; wohl treten die Falten auf der Stirn, um die Augen, um den Mund stärker hervor, wenn es der Bube gar zu arg treibt. Aber gleich schwindet der zürnende Ausdruck, nur eine Falte bleibt noch deutlich auf der hohen Stirne zu sehen. Heute weiß ich, was diese Falte zu bedeuten hat; sie hat sich ja mir selbst schon eingegraben; es ist die Falte des Kummers. Und nun ertönt eine liebe Stimme, voll des Wohlklanges, den Besorgnis und Liebe geben liebe, „Kind, sei brav!“ kann: Mein liebes, gutes Großmütterlein! Siehst du mich wohl, wie ich jetzt hier sitze, Großmütterlein, hier im Kerker sitze? Aufschreien könnte ich vor Weh — und doch, ich danke dem Geschicke, daß du das nicht mehr erlebtest! Eine einzige Stunde möchte ich noch so an deiner Brust ruhen wie damals, als ich noch ein schuldloses Kind war! Du hast mich nur Gutes gelehrt; warum mußte ich so weit kommen? Ein Fluch leitete mein Leben ein; die mir das Leben gab, wollte nichts von mir wissen. Wehe dem, sei er noch so reich, an dessen Wiege Mutterliebe fehlt! Nichts kann den ersten liebevollen Mutterblick ersetzen, nichts den ersten Kuß der Mutter, nichts kann für ein Kind ein größerer Schatz sein als Muttersorge. Mein gutes Großmütterlein; du suchtest den Fluch in Segen zu wandeln, du tatest mehr als Menschen= und Christenpflicht ist — aber der
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