Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1929

315. fast ungestüm: „Hochwürden, ich bin Ihnen noch Auskunft schuldig, warum ich Sie so sehr bemühe. SehenSie, ich hatte ein seltsames Erlebnis. Dieser Tage komme ich abends nach Haus. Es regnete und war dunkel. Unruhig flackerte die Laterne vor meiner Tür, ich suchte mühsam nach dem Schlüssel¬ ster loch, hebe meinen Blick und sehe, die Straße steht voll Menschen. Mein bes Freund, mein Leibfuchs Bols, steht vor mir mit todernstem Gesicht. Ich sehe Chargierte, sehe die Fahne meiner Verbindung schwarzumflort, erstaunt — Da nennt er frage ich meinen Freund: Kerl, wer ist denn gestorben? meinen Namen. Eisiges Entsetzen lähmte mich. Kalte Schauer überfielen mich. Tonlos mit schwerer Zunge hörte ich mich fragen: was denn für ein Datum sei? Da nennt er den vierten Mai. Das sei der Tag meiner Beer¬ verschwunden ist das digung. Ich greife an meine Stirn, ich schaue auf Bild. Die regennasse Straße liegt grau im Dämmern.“ Erschöpft lehnte sich der junge Mensch in den Stuhl. Der Propst konnte sich eines Grauens nicht erwehren, er hatte schon mancherlei Sonderbares erlebt, daß warnende Gesichte zu Menschen kamen, die nicht vorbereitet waren auf den letzten Weg. Doch jetzt kam ihm ein kleines überlegenes Lächeln: „Vielleicht schickte Ihnen Gottes Vorsehung dieses Gesicht, als Mahnung: ein ganzer Christ zu werden. Sehen Sie, Ihr Gesicht kann nicht stimmen, denn heute ist der erste Mai, und wenn Sie am vierten Mai beerdigt werden wollen, dann müssen Sie schon heute Abend vor Mitternacht sterben. Sie sind ein sensibler Mensch, immer berührt vom Unerklärlichen. Nun halten Sie Frieden.“ Der Propst ging auf den Zusammengesunkenen zu, legte ihm die Hände auf die Schulter, und sagte, ihn fest ansehend: „Nicht wahr, Sie versprechen mir, daß Sie gesund werden wollen?" Jener nickte traurig. „Heute in der Abend¬ andacht des Domes, als alle Lichter vor dem Bilde der Himmelskönigin brannten, steigerte sich meine Unruhe zur Qual. Es war als klinge immer wieder eine Stimme in mir: Mach Deine Sache mit Gott in Ordnung. Dann sah ich Sie, und ehe ich recht wußte, wie oder was, führte mich unsichtbarer Drang, dann war ich bei Ihnen.“ „Und doch konnte ich Ihnen so wenig Ruhe geben?“ Seufzend schloß der Propst die Augen, um sie sogleich groß zu öffnen: „Denken Sie an das Wort des Apostels: Ich kann alles in dem, der sich stärkt, reißen auch Sie sich zusammen! Der junge Mensch richtete sich auf, dankte und wollte sich verabschieden. Da kam dem Propst ein Ahnen, ein geheimes Unruhigsein, und aus diesem Unruhigsein bat er: „Bleiben Sie bis gegen zwölf, mein junger Freund, dann ist Ihr verhängnisvoller Tag zu Ende. Sie saßen im Studierzimmer. Der Propst holte Mappen, darin lagen Bilder, die man betrachtet. Aber die großen Kunstwerke ließen den jungen Menschen kalt, er sah manchmal herüber, wo Leonardos Christuskopf hing. Man sprach dies und das und suchte die Tiefe des Abends zu überbrücken. Doch ein Fragen blieb zurück, ein stilles, verborgenes Weiterspinnen von unausgesprochenen Gedanken. Die Uhr im dunklen Gehäuse schritt vor. Das Perpendickel glitt hin und her. Mitternacht nahte. „Ja, Hochwürden, jetzt bin ich ganz beruhigt, mein Traum war nur Traum. Ich danke Ihnen und will gehen.“ Lächelnd griff Hand in Hand.

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