Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1927

96 allen Gassen herbei, alles wollte den Koloß noch gesehen haben, eh' ihn die Ketten für immer rasselnd aufwärkszogen. Wieder war es für ganz Dingstadt ein Fest und schließlich könte die Kaiser¬ glocke eine ganze Stunde lang zum erstenmal über alle Dächer hin; entzückt blieben die festlichgestimmten Menschen auf den Gassen stehen, selbst die es am eiligsten hatten, hemmten ihren Schritt und alles lauschte dem neuen Klange, wie einer Musik. Michl erinnerte sich nun wie damals die Zeitungen des ganzen Reiches seine Kaiserglocke besprochen hatten, wie sie die unbeschreibliche Schönheit ihres Klan¬ ges rühmten und sich gelehrt und laien¬ haft über das sonderbare Geheimnis tritten, warum wohl das Geläute dieser Glocke wie nie noch eines die Macht hatte, mit der Stimmung jedes Zuhö¬ renden Zwiesprach zu halten, heiter oder ernst, dumpfbrütend oder innig. Die Glocke sprach zu jeder Stimmung und fand den Weg in jedes Herz. Der Name Hagenauer war mit einem Schlage weit und breit bekannt gewor¬ den. Ehrungen wurden Michl zuteil wie nur größten Künstlern, und auch der wirtschaftliche Erfolg stellte sich reichlich ein, und neben ihm stand Lukrezias Liebe, wie die Flamme, von der zu allem Schaffen Licht und Wärme kam. Welch frohe Jahre glücklichen Ehestandes waren dies nun! Noch eine gute Weile schwelgte Ha¬ den genauer in der Stimmung, die aus setzte Bildern jener Zeit floß. Schließlich der er sich auf und blickte sich wieder in wirklichen Welt um. Es war schon spät geworden; die halbe Sonne war bereits im Westen unter den Horizont gesunken und die Obstbäume am Weg und an den Wiesenrändern warfen schon ihre Schat¬ ten bis hinauf unter das Buchendach und legten sich dort über Michels Traumbild wie ein Vorhang im Theater. Hagenauer warstundenlangträumend durch längst verrauschtes Leben gewandert jetzt saß er im Grase und die Stimmung des Abends umfing ihn wie süßer Rausch. Er griff nun nach seinem Strohhut und chlenderte den Waldrand hinab; ruhige Zuversicht, der Ausdruck wahren Glückes lag in seinem Antlitz. Einen Augenblick blieb er stehen, so, als wollte er sich seines Glückes noch einmal vergewissern. Ja, es war richtig, die „stille Wettl“ war nun wirklich tot und auch schon begraben. Alles war nun anders geworden. Der Tod hatte einen erlösenden Strich durch ine alte Schuld getan. Er summte sich ein Liedchen und schlug seinen Weg vom onnigen Hang talwärts der Stadt zu. Zum Abendessen wollte er bei Lukrezia ein. Plötzlich mußte er lauschen. Bei den ersten Häusern der Stadt jetzt angelangt, ah er eine singende Jägerkompagnie um die nächste Gassenecke marschieren und der Schlußvers des bekannten Soldaten¬ liedes verklang über Gärten und Dächer in der Heimat, in der Heimat, da 9 gibts ein Wiederseh'n!“ Mit Michls stiller Zufriedenheit wars nun vorbei; er hatte es heute ganz ver¬ gessen, daß ja die Welt schon über zwei Jahre kriegstoll täglich über alle Länder Elend häufte. Er schämte sich nun, daß er losgetrennt von all diesem Elend einen ganzen, langen Nachmittag, wie auf der Insel der Glückseligen geweilt. Bei Kriegsausbruch, im August 1914, als der große Jubel durch Deutschland und Oesterreich ging, war auch er im ersten großen Rummel der Einrückenden dabei gewesen; doch statt des feldgrauen Rockes gab man ihm den kaiserlichen Auftrag, künftig in seiner Werkstatt Ka¬ nonenrohre zu gießen und mußte es so anderen überlassen, wo er selbst gerne dabei gewesen wäre. Weil er aber für die Drückebergerei einer Hinterlandsbe¬ chäftigung zu wenig Eignung hatte, traf hn dieser Auftrag wie eine Verletzung seines heiligsten Rechtes am Vaterlande. Da kam die Kunde von den ersten Schlachten im Osten, wo die Russen aus den besten Kanonen schossen und die Oesterreicher gegen sechs Geschütze nicht eines stellen konnten und viele Tausende dieses Versäumnis bitter büßen mußten,

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