Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1927

82 So eine Besonderheit hatte auch Dingstadt in ihrer „stillen Wettl“ mit welchem Namen die Schustersgattin Bar¬ bara Steighuber selbst beim kleinsten Kinde zu erfragen war. Die „stille Weltl“ ging seit Jahr und Tag stets in schwarzen Kleidern. Ihr schmales Gesicht, das sicher einmal schön gewesen und ihre mageren Hände glänzten gelb wie altes Pergament. Wo sie stand und ging murmelte sie, und in der Pfarr¬ kirche hatte sie ihr bestimmtes Plätzchen neben dem Choraufgang, der zu den Glocken führte, seit Jahren. Sie besorgte zwar ihrem anspruchs¬ losen Manne so halb und halb die Haus¬ wirtschaft, auch hatte sie einen hübschen fast achtzehnjährigen Sohn, aber es kannte sie doch niemand anders, wie eine när¬ rische Frau, bei der Mann und Kind hätten zugrunde gehen müssen, wenn sich um diese nicht andere Leute besser um¬ gesehen hätten. Wie weit es mit ihrer Verrücktheil her war, darum kümmerte sich niemand. und weshalb die schöne, lustige Barbara zur „stillen Wettl“ geworden, wer konnte das genau wissen? Die Hauptsache war, daß sie nie¬ mandem etwas zuleide tat und doch hätte eines an der „stillen Wettl“ besonderen Anlaß gegeben, über die Herkunft ihres Wesens nachzusinnen. Wenn keiner sonst, die Ministranken buben fürchteten die „stille Wettl“, obwohl sie nicht sagen konnten, daß sie je einem ein Leids gekan. Wenn die Buben oben in der Turm¬ stube die Seile zogen und die Glocken schwangen, dann fragte sicher einer, ob die „stille Wettl“ wieder unten in der Kirche knie. Durch achtzehn Jahre kniete sie zur bestimmten Stunde dort, aber die Frage kam alle Tage wieder und ein Knirps übergab sie dem andern mit derselben Wichtigkeit wie irgend ein Amt übergeben wird. Keiner wußte zwar warum er fragte, aber immer ward die Frage mit soviel Furcht gestellt, daß nachgerade schon in ihr das Bangen lag. Was hatte die „stille Wettl“ mit den Glocken zu kun oder was nur die Glocken mit ihr? Besonders eine, die größte von allen, die „Kaiserglocke“ die am 2. Dezember des Achtundneunzigerjahres zum ersten¬ mal geläutet worden, die hatte mit der „stillen Wettl“ sicher etwas zu kun. Vier Knaben mußten an dieser Glocke ziehen, o groß und schwer war sie und ehe sie geläutet wurde, sperrte der Mesner vor¬ her die schwere Eisentür zum Chorauf¬ gang ab. Das geschah nun schon durch achtzehn Jahre so. Und wenn sie geläutet wurde, dann kniete hart neben der Tür die „stille Wettl“ Ueber die Dächer der Stadt schwang sich das tiefe Bum=baum und brummend zog es durch den Turm in die weite Kirche — Bum=baum, Bum=baum. Und die schwarze Frau spreizte dann die Finger und krallte sie zur Faust, spreizte sie wieder und krallte sie wieder, als tät ihr das Bum=baum weh, als wollte sie es fangen und zerdrücken. Beim Klang der Glocken zum Abend¬ gebet waren die Kirchentore meist gesperrt. An Donnerstagen, wenn sich auch die Kaiserglocke mit ihrem schweren Klange zu den übrigen Glocken gesellte, öffneten die Dingstädter ihre Fenster und lauschten dem Klingen in der Abendluft. Bum¬ baum, erhaben wie eines Kaisers Schritt und doch voll seltsamer Wehmut, Tränen gleich. Was war das für eine herrliche Glocke! Und ein Sohn der Stadt hatte sie gegossen. Weit und breit, vielleicht auch nicht in Rom, gab es wieder solch ein Meisterstück. Wenn also am Donnerstag Abend diese Glocke klang und die Kirchtore geschlossen waren, dann ging ums schla¬ ende Gotteshaus sicher die „stille Wettl und so oft sie am Turme vorüberkam. versuchte sie die eiserne Turmtüre zu öffnen. Wohl fünfmal ging sie die Runde und fünfmal drückte sie an die Klinke. Verstummte dann die Glocke bis zum nächsten Sonntagsmorgen, dann ging auch die schwarze Frau murmelnd, doch schein¬ bar völlig beruhigt wieder heim.

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