Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1927

78 Eine bittere Verzweiflung bemächtigte sichder Frau. Noch immer starrte sie das blasse Gesicht des Daliegenden an. Es fiel ihr der weiche Zug in ihm auf, den sie von geliebt Anfang an so besonders an ihm hatte. Ein tiefes Mitleid überkam sie jetzt Er¬ mit ihrem Manne, ein schmerzliches barmen, daß sie ihn so leiden sehen mußte ie Allmählich wurde es in ihr klar, daß sic doch zuerst daran gedacht hatte was an ihm verlieren könnte, und nicht an das, was vielleicht er verlieren würde. Und es kam ihr jetzt zum Bewußtsein, wieviel Selbstsucht noch in ihrer Liebe zu ihrem Manne lag. Der Abend war gekommen. Elisabeth hatte für wenige Augenblicke das Kran¬ kenzimmer verlassen, um verschiedenes anzuordnen. Als sie wieder an das Bett ihres Mannes trat, schlug dieser die Augen auf, freilich nur einmal, doch ein helles Aufleuchten in seinem Blick hatte ihr gezeigt, daß er sie erkannt hatte. Sie dankte Gott im stillen dafür. Er kam wieder zurück ins Leben! Dann machte er eine tastende Be¬ wegung mit der Hand, als wenn er etwas suche. Elisabeth griff nach seiner Hand und behielt sie in der ihren. Egon blieb ruhig. Der Arzt kam wieder, um aufs neue zu untersuchen. Bange, schwere Minuten der Ungewißheit verflossen. Der Gatte würde leben — weiters könne man mit Bestimmtheit jetzt noch nicht sagen. Elisabeth hörte nur das eine heraus Egon würde leben! Das war ihr genug. Weiter wollle sie jetzt nicht mehr denken. Egon Manitius' Befinden blieb sich gleich. Es waren ihm die liebsten Stunden, wenn die Gattin an seinem Lager saß, und nur selten wich sie von diesem. Der Arzt hielt es für gut, nach einiger Zeit noch einen berühmten Kollegen bei dem schweren Fall zu Rate zu ziehen. Nach der gemeinsamen Untersuchung berieten sich die beiden Aerzte lange. Endlich rief man Elisabeth. Eine furcht¬ bare Unruhe hatte sich ihrer bemächtigt. Der ältere der beiden Herren ergriff zuerst das Wort. Leise fragte er sie, ob ie jetzt stark genug sei, alles zu hören. Sie bejahte, denn sie wollte Gewißheit haben, volle Gewißheit um jeden Preis Es war eine Rückenmarkserschüt¬ terung, ein unheilbares Leiden, das völlige Lähmung und voraussichtlich ein jahre¬ langes Siechtum im Gefolge haben würde. Elisabeth vermochte kein Wort über ihre Lippen zu bringen; sie meinte, sie müsse zusammenbrechen. Die Aerzte gingen fort. An jenem Tage vermochte Elisabeth beim besten Willen nicht, lange um den kranken Gatten zu sein. Es kam die schwerste, die traurigste Nacht ihres Lebens, es kamen die Stunden der Verzweiflung, des erbitterten Seelen¬ kampfes, ehe sie sich durchrang zu der furchtbaren Erkenntnis, daß sie eine von denen geworden war, die da Leid tragen üssen. * Jetzt hielt sie Einkehr bei sich selbst, sie blickte zurück auf ihr junges und doch so kurzes Leben, und sie fühlte, wie sie immer zuviel an sich gedacht, an das, was es ihr an Seite ihres Gatten noch alles bringen sollte. Jetzk erkannte sie klar, daß ihr ganzes Leben und ihre Liebe bisher zu wenig selbstlos gewesen waren. Nach vielen ban¬ gen Nächten kamen dämmernd die Mor¬ gen heraufgezogen, die Morgen, an denen Elisabeth sich zu der Erkenntnis durch¬ gekämpft hatte, daß es ihre Pflicht ge¬ worden war, jetzt nicht mehr das Ihre zu suchen, sondern ihrem Manne bei¬ zustehen, ihm zu helfen, die dunkle Nacht der Leiden zu überwinden. Ein starker Wille erwachte in der Frau, und er half hr. Monate waren vergangen. Elisabeth weilte mit dem geliebten Gatten in einem berühmten Heilbad. Egon hatte bald geahnt, wie es in Wirklichkeit mit ihm stand. Sein heller, offener Blick sagte es ihr deutlich, daß der Gatte sich seines Schicksals vollauf bewußt war.

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