84 und mitgenommen. Der Knabe hatte, als der Kampf begann, das Mädchen mit sich fortgeführt und es beschützt, wie er überhaupt in ihrer Nähe stets sanft und gefügig war. Als der Morgen graute und die beiden merkten, daß alle anderen to waren, nahm das Mädchen die Hände des Knaben und sagte: „Wir wollen ein anderes Leben anfangen. Wir wollen diesen Ort verlassen und zu guter Menschen gehen. Von allen Schätzen nahmen sie nur den Heiligenschein, ihr Leben zu fristen. Sie wanderten zur nächsten Stadt, Hand in Hand, und ahen die Zukunft licht. Von dem Knaben war alles Finstere und Böse gewichen und nur Gutes geblieben. Als sie indessen in der Stadt ver¬ suchten, das Gold zu verkaufen, wurde man mißtrauisch, weil sie scheu und zer¬ lumpt aussahen. Man warf sie als Diebe und verstockte Lügner ins Gefängnis undsagte ihnen, falls sie nicht alles zu ihren Gunsten aufklären könnten, würde man sie henken. In dem dunklen Kerker saßen die Kinder eng aneinander geschmiegt und jedes fühlte deutlich, wie lieb ihm das andere war. So sehr, daß jedes ver¬ meinte, den Gedanken an das dem an¬ deren drohende Geschick nicht ertragen zu können. Da faßte jedes einen Ent¬ schluß, den es vor dem anderen sorg¬ fältig verschwieg. Am Morgen bat jedes allein vor den Richtern gelassen zu werden. Dort gestanden beide ihre an¬ gebliche Schuld; ohne von einander zu wissen, erklärte eins das andere ür schuldlos und bat dessen Freilassung. Der Richter war ratlos. Zwarfühlte er sich durch so viel aufopferndeLiebe gerührt, doch meinte er sich etwas zu vergehen, wenn er sie freiließe. Einer müsse doch schuldig sein, und wenn es nicht anders wäre, dann müsse man eben beide richten. Vielleicht, so dachte er, würde jedoch im letzten Augenblick die Todesfurcht den schuldlosen Teil zur Zurücknahme seiner Selbstbeschuldigung veranlassen. Die Stunde kam, wo die beiden gerichtet werden sollten. Viel Volk trömte herzu; der seltsame Vorfall hatte ich weit herumgesprochen. Jeder wollte die Sünder sehen. Sie gingen Hand in Hand. Seit sie wußten, wie lieb eines dem anderen war, hatte der Tod alle Schrecken für sie verloren. Sie waren gefaßt und ruhig, und ihr Anblick stimmte das Volk seltsam weich Auf der Richtstätte wurden sie zum letzten Male vermahnt, die Wahrheit zu sagen: Beide blieben fest. Dann wurde der Heiligenschein noch einmal allem Volke gezeigt und man wollte gerade zur Vollstreckung des Urteils schreiten. Da ward plötzlich der eben noch trübe, graue Himmel strahlend hell, so daß jeder die Augen schließen mußte. Und als die Leute sie wieder öffnen konnten, waren die Kinder verschwunden und mit ihnen das Gold. Alles Volk aber sah den Himmel weit geöffnet: Eine goldene Brücke führte von der Erde geradewegs hinein, und auf dieser Brücke schritt ein Mann im schlichten Gewande. Ueber seinem Haupte trahlte ein wunderschöner Heiligenschein, dessen Glanz ausreichte, um noch das braune, stolze Haupt des Knaben und das blonde, sanfte Köpfchen des Mädchens zu umstrahlen, die Hand in Hand hinter ihm gingen.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2