Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1926

80 hafte Ueberempfindlichkeit und hielt ihn um so ängstlicher von einer unbedacht¬ samen Handlung zurück, als sie ihn möglicherweise zu einem abermaligen Umzug genötigt hätte Er litt unter dieser Erkenntnis, als ob Gift in ihm wühlte und seine ohnehin karge Gestalt schrumpfte noch mehr zu¬ sammen. Einmal freilich bäumte sich etwas in ihm gegen diesen Zustand. Er war nach ein paar Stunden unruhigen Schlafes durch das Gebell des Hundes geweckt worden, das in der stillen Nacht besonders schauerlich klang und versuchte vergebens, neuen Schlaf zu finden. Der Morgen graute schon und immer noch klang das Geheul, da sprang er in heller Verzweiflung aus dem Bett, ballte die knochigen Fäuste gegen den Ruhe¬ störer und knirschte: „So wahr ich lebe, ich werde diesen Hund vergiften!“ Am Tage aber schämte er sich seiner schwarzen Rachepläne in tiefster Seele. „Ich bin ein elender Schwächling,“ predigte er sich vor, „eine überflüssige Kreatur und zu gar nichts nütze. Und er gewann dabei allmählich seinen Gleichmut wieder. Sein Aussehen mußte indessen er¬ schreckend geworden sein, denn als er vom Büro, wo er gegen geringe Be¬ zahlung Briefumschläge mit Aufschriften versah, nach Hause kam, sagte Frau Malow zu ihm: „Mein Gott, Herr Gräber,Sie sehen ja mit jedem Tage schlechter aus Ich weiß wirklich nicht, warum Sie immer so ruhelos herumlaufen. Sie sollten einmal gründlich ausspannen,ein paar Tage hier unten im Hof in der Sonne liegen, das täte Ihnen gut.“ „Hu, dachte Gottlieb, „mich derart dem Rachen des Tieres ausliefern, purer Selbstmord!“ Aber er lächelte nur leise entsagend und beschloß, in der Kunst der Selbstüberwindung weitere Fortschritte zu machen. Die Umstände kamen ihm in dieser Absicht glücklich entgegen. Frau Malows Töchterchen war in der Klavierreife so weit fortgeschritten, daß sie bei offenen Fenstern spielen konnte und sie ließ in unermüdlicher Anstrengung den Jäger aus Kurpfalz in den grünen Wald reiten, gleichsam, als habe sie es nur darauf angelegt, den Hund zu reizen, der an der Kette lag und nicht mit auf die Jagd konnte. Die Wutausbrüche heiseren Gebelles waren Gottlieb denn auch ein prachtvoller Anlaß, seine Selbstbeherrschung bis zur Belastungsgrenze zu üben. In der freu¬ digen Gewißheit der neu gewonnenen Festigkeit faßte er dann den Plan, dem Todfeind das größte Opfer zu bringen, dessen er fähig war. Nicht vergiften wollte er ihn, nein, er wollte ihm Gutes tun. Eine ganze frische und leckere Wurst kaufte er beim Schlächter, dann begab er sich in das Haus seines Nachbars. „Guten Abend, Herr Rasselbarth, agte er, „Sie haben da einen so präch¬ tigen Hund . ... dürfe ich mir vielleicht erlauben .... wirklich, sie ist vollkommen frisch, ich habe sie geschenkt bekommen, aber alle Tage Wurst, wissen Sie .... „Aber natürlich, selbstverständlich, agte der Schutzmann, „Nicht wahr, es ist ein prächtiges Tier., Uebrigens ist es eine Hündin. Kommen Sie, Sie müssen Bella einmal sehen.“ Zitternd und nicht ohne Grausen folgte Gottfried. Kaum aber hatten sie den Hof betreten, als Bella ein geradezu betäubendes Gebell ausstieß. Wie in angstvoller Notwehr schleuderte Gottlieb seine Wurst dem Tiere vor die Füße, das sie nur einen Augenblick lang knur¬ rend beroch, um gleich darauf sein wü¬ tendes Gebell fortzusetzen. „Unbestechlich!“ sagte der Schutz¬ mann stolz, indem er auf die unberührte Wurst zeigte. „Wo gibts noch so was in der heutigen Zeit? Und wachsam! Der Hund ist ein Segen für die ganze Nachbarschaft. Sie können versichert sein, daß niemals bei Ihnen eingebrochen wird, solange Sie hier wohnen. Das Tier hat eine so feine Nase für alles, was nicht echt ist.“ Goktlieb wankte hinaus. Er zitterte an allen Gliedern. Hatte es denn anders

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