Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1926

nach abgeschlossenem Studium der ganze Reichtum der Heiligen Schrift zum erstenmale wunderbar erschloß. Mit dieser Bibel beschwerte ich den Rand des Bildes, daß es vor dem Zugriff des Nachtwindes, der durch die offenen Fenster wehte, gesichert bliebe. In meinen Gedanken und wechseln¬ den Vorstellungen noch immer mit dem Anklitz von Lidas Mutter beschäftigt, ging ich zu Bett und versank sofort in liefen Schlaf. Zu irgendeiner Stunde, es mochte Mitternacht sein oder auch schon später, fuhr ich beunruhigt aus den Kissen auf. Es war stockfinster um mich her und totenstill, nur der Wind, die rauhe Tra¬ montana, pfiff zum Sturm gesteigert um das hochslöckige Haus. Sogleich fiel mir das Bildnis wieder ein. Ich mußte nachsehen, ob es sich noch an seinem Platz befände. Aber sonder¬ barerweise mißlang der Versuch, das Licht der Lampe auf meinem Nachttisch einzuschalten. Meine Hand war schwer wie Blei, kaum zu erheben. Gelang es mir überhaupt, den Schalter zu er¬ reichen? Ich fühlte ihn ein paar Mal ließ durch meine Finger gleiten. Warum ge¬ er sich nicht bewegen? Schlaff und die lähmt sank meine Hand zurück auf un¬ Decke — Wirre Einbildungen von heimlichen Gewalten, die um mich her ihr Wesen trieben, huschten mir durchs Hirn. Ich glaubte, wach zu sein. Heute zweifle lch daran, aus guten Gründen. Das Bild verlangte nach mir. Ich mußte unbedingt zum Tisch, mich seiner Gegen¬ wart zu versichern. Mit übermenschlicher Anstrengung erhob ich mich, tappend und schwankend tastete ich mich hinüber. Ja, gotklob, da war es noch, beschwert von dem Gewichte der Bibel. Deutlich spürten meine Fingerspitzen die seidige Glätte des Papiers und die rauhere Fläche der Farben. Beruhigt legte ich mich nieder, —glaubte alsbald schlief wieder ein abermals zu erwachen. Jetzt aber befand ich mich in völlig veränderter, zum 71 Bösen verwandelter Stimmung; gereizt zu flackerndem Zorn, erbittert, daß meine Zukunft abhängen sollte von einem alten Bildchen, von einer fremden toten Frau, die kein Urteil, keine Stimme mehr hatte. Rein, aus freiem, eigenem Ent¬ chluß sollte Lida mich zum Manne wählen. Die Kraft ihrer Liebe sollte sich daran erweisen, ob sie auch ohne den Aberglauben an ihr Amulett ... Heftig sprang ich auf, stürzte, meiner Sinne nicht mächtig, quer durch den finsteren Raum hinüber nach dem Tische. Wütend zog ich das Bild unter der Bibel hervor, riß es mitten durch, zer¬ etzte es im Nu zu Akomen, die ich durchs Fenster dem Sturme preisgab. Pfeifend führte die Tramontana die ederleichte Beute mit sich über die Palmen und Zipressen hinweg nach dem See hinaus. Ein wundervoller, kühler aber onnenheller Morgen brach an. Im gleichen Moment, da ich die Augen auf¬ chlug, durchzuckte mich auch schon der Schrecken: was ist mit Lidas Bild ge¬ chehen? Nun doch wohl nichts Beson¬ deres, suchte ich mich zu beschwichtigen, ein wüster Traum hat mich zum Narren gehalten! Nur in Angstträumen zerstört man sich schuldlos sein Lebensglück. Die Tischplatte war meinem Blick vom Bette aus erreichbar. Da lag die Bibel in der Mitte zwischen den Büchern, so wie ich sie am Abend verlassen hatte. Jedoch was war das? Unfaßbare Wirk¬ lichkeit! Das Bild darunter fehlte! Ich springe hin... ich reibe mir die Lider... mein Herz schlägt mir bis in den Hals hinein... das Bild ist spurlos verschwunden! Verzweifelt, außer mir vor Scham und Entsetzen werfe ich die Bücher durcheinander, ganz ohne Zweck ... denn sofort steht mir außer Zweifel, daß mein Traum tückisch her¬ übergegriffen hat in die Welt der Tat¬ sachen. Schlafwandelnd habe ich das Bild zerrissen und seine Reste in den Wind verstreut. Gleichzeitig weiß ich, daß ich außer¬ stande sein werde, ohne das Bild vor

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