Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1924

46 Am nächsten Morgen fanden wir uns pünktlich in der Probe ein. Auf meinen Rat hin las Jenny ihre Rolle, denn ich wußte aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, eine neue Rolle zu lesen, wenn man sie nicht gleichzeitig spielt und wenn man jeden zweiten Augenblick durch die Anweisung des Regisseurs un¬ terbrochen wird. Besonders nach einem raschen Studium scheinen einem die Worte dann ganz zu entfallen, und man fängt an, voll Entsetzen zu glauben, daß man die Rolle überhaupt noch nicht im Kopfe habe. Eine solche Marter mußte Jenny un¬ bedingt erspart bleiben, wenn sie am Abend überhaupt etwas leisten sollte, und obschon die ganze Gesellschaft be¬ denklich den Kopf schüttelte, las Jenny unbeirrt mit ganz leiser Stimme weiter denn ich hatte sie vor jeder unnötigen Anstrengung dringend gewarnt. Jeder, der nur ein wenig mit Theater¬ verhältnissen bekannt ist, weiß, was die Probe eines neuen Stückes am Tage der Aufführung bedeutet. Zimmerleute hämmern und klopfen an neuen Deko¬ rationsstücken, der Regisseur rast in kläglicher Bestürzung hin und her, die Kulissenmaler machen die letzten Striche an ihrem Werk, der Direktor ist tadel¬ süchtig und unzufriedener denn je, kurz jedermann befindet sich in der unange¬ nehmsten855und unliebenswürdigsten Laune. Aber selbst eine letzte Probe muß ihr Ende erreichen. Um sechs Uhr schlug die Stunde unserer Erlösung; jetzt stand es uns frei, uns noch ein wenig zu er¬ frischen und zu erholen, da die Vorstel¬ lung erst um ½8 Uhr beginnen sollte. Jenny weigerte sich, das Theater zu verlassen und zog sich in das Ankleide¬ zimmer der Damen zurück, wo die bril¬ lante, ursprünglich für Fräulein Ha¬ sting bestimmte Toilette schon in Be¬ reitschaft für sie lag und die Gardero¬ biere in einer stürmischen Diskussion mit der Kleidermacherin begriffen war. Da die heutige Aufführung als Extra¬ vorstellung galt, so hatten die Damen nicht selbst für ihre Kostüme zu sorgen ein Glück für Jenny, die natürlich keine einzige Bühnentoilette besaß. Ich überließ meiner Frau den halben Inhalt meiner Börse, bat sie dringendst, irgend eine Stärkung oder wenigstens eine Tasse Tee zu sich zu nehmen und begab mich dann selbst, zu Tode er¬ chöpft, in das nächste Kaffeehaus. Als ich nach einer Weile in das Theater zurückkehrte, fand ich die Türen bereits geöffnet; das Haus schien sich sehr rasch zu füllen. Am Eingang zur Bühne traf ich auf Georg, den Gasanzünder, ein altes In¬ ventarstück Willbrandts, der eine große Anhänglichkeit an ihn hatte. „Sie sehen ja todmüde aus, Herr,“ bemerkte der Mann mitleidig. „Ich bin in der Tat sehr ermüdet,“ ver¬ etzte ich; „ich habe das Gefühl, als ob ich heute abends gar nichts leisten könne. „Um Gotteswillen, lieber Herr, halten Sie sich aufrecht!“ rief Georg mit ängst¬ licher Miene. „Um unserer aller Willen müssen Sie in dem neuen Stück Ihr Bestes tun. Jedermann sagt, wenn es mißglücke, müsse unser armer alter Herr das Feld räumen.“ Also hatten bereits die Arbeiter Wind von der Insolvenz unseres Direktors! „Seien Sie ohne Sorge, Georg; ich werde mich schon durchbringen,“ trö¬ stete ich mit angenommener Heiterkeit. „Ihretwegen bin ich nie in Angst, Herr,“ versetzte der Mann, mich bewun¬ dernd ansehend, und ich eilte an ihm vorüber in das Herrenzimmer, wo ich einige meiner Kollegen bereits anwe¬ send fand. Während ich mein Kostüm anlegte, hörte ich aus der Ferne, wie das Orche¬ ter seine Instrumente stimmte; unheil¬ verkündend berührten die abgerissenen Geigentöne, der klagende Ton des Waldhorns mein lauschendes Ohr, während das dumpfe Getöse in dem dichtgefüllten Hause mich mit einem Ent¬ etzen erfüllte, das ich nie zuvor empfun¬ den. Meine Hände zitterten dermaßen, *

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2