Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1924

22 wältigt von der Größe des Vergehens, das sie zu bekennen hatte, war sie zu Boden geglitten und blickte nun mit lehend erhobenen Händen und tränen¬ euchten Augen zu Herrn Newton auf. Der Anblick des jungen schönen Mäd¬ chens in solch tiefer Betrübnis ging ihm sehr zu Herzen. Er erhob Milly vom Boden und brachte sie in den großen bequemen Armsessel, den er bei ihrem Eintreten inne gehabt. „Sie müssen denken, ich sei der hart¬ herzigste Mensch auf Erden, Fräulein Croßland, sagte er ruhig. Milly lächelte unter Tränen, aber diesem Lächeln folgte augenblicklich ein hysterisches Schluchzen. „Sie haben mir meine Aufgabe er¬ leichtert,“ fuhr Herr Newton fort, „denn es war meine Aufgabe, das Vermächtnis meines teuren Vaters, Sie aufzusuchen und zu erforschen, in welcher Weise ich Ihnen dienlich sein könnte. Es betrübt mich außerordentlich, zu hören, daß Ihr Bruder sich eines so schweren Vergehens schuldig gemacht hat und ich hoffe, die Angst und Besorgnis, die er selbst er¬ duldet und Ihnen verursacht hat, werden ihm für die Zukunft eine Warnung sein. Ich brauche Sie wohl kaum zu ver¬ sichern, daß ich nicht die Absicht habe, ihn dem Gerichte anzuzeigen. Da er, wie Sie mir sagen, nur der Verführung durch ausschweifende Genossen erlegen ist, so werden wir nichts besseres für ihn tun können, als ihn von seinen Ver¬ suchern zu entfernen. Doch davon später. Seien Sie ganz beruhigt betreffs Ihres Bruders und glauben Sie, daß Sie in mir einen Freund gefunden. Sie werden in ganz kurzer Zeit von mir hören.“ Überwältigt von Dankbarkeit, konnte Milly nur einige unzusammenhängende Worte murmeln. Dann gab ihr Robert Newton bis zur Halle das Geleite und Milly entfernte sich voll Hoffnung für die Zukunft, ohne Angst für die Gegenwart. 3: Am nächsten Tage ließ Herr Newton den jungen Croßland in sein Privat¬ büro bescheiden, teilte ihm mit, daß er von seinem Vergehen Kenntnis erhalten was Paul inzwischen natürlich schon von Milly erfahren hatte — und über¬ gab vor seinen Augen den gefälschten Wechsel den Flammen, nachdem er den tief gedemütigten jungen Mann zuvor das seiner Schwester gegebene Ver¬ sprechen hatte erneuern lassen. Dann ent¬ ließ er ihn mit einer ernsten Warnung wegen des zukünftigen Verhaltens. Robert Newton hatte strenge Begriffe von Treue und Ehrlichkeit und würde Paul schwerlich so leichten Kaufes davon haben kommen lassen, hätten ihm nicht ein Paar sanfte blaue Augen vorge¬ schwebt, die voll flehentlicher Bitte zu ihm aufblickten. Von diesem Tage an sah Paul seinen jungen Prinzipal häufig auf dem Büro, aber dieser wechselte nie ein Wort mit ihm, das nicht Geschäftssachen betroffen hätte. Ganz kurz nach des alten Herrn Tod wurde das gesamte Büropersonal entlassen, aber alle außer Paul erhielten durch Herrn Newtons Vermittlung neue einträgliche Stellung. Paul empfing mit schwerem Herzen sein letztes Gehalt und wagte beim Abschied von Herrn Newton die wenigen Worte: „Weder Milly noch ich haben unsere Schuld an Sie ver¬ gessen. Seien Sie überzeugt, daß sie ab¬ getragen werden wird, sobald ich ander¬ weitig placiert bin.“ „Muten Sie doch Ihrer Schwester nicht zu, an der Last zu tragen, die Sie selbst Ihren Schultern aufgeladen,“ ver¬ setzte Herr Newton. „Ihre Schwester hat keinen Teil an dem Unrecht, verdient also auch nicht, darunter zu leiden.“ Paul errötete bis zum Stirnhaar. Milly hatte als etwas so Selbstverständliches ihren Teil an der Last übernommen, daß ihm jetzt bei Herrn Newtons stren¬ gen Worten die Augen aufgingen über seine eigene Rücksichtslosigkeit. Tief verletzt und geärgert trat er nach kurzem Abschied von Herrn Newton den Heimweg an; er machte sich selbst Vor¬ würfe darüber, daß er diese Gefühle nicht unterdrücken konnte, sah er doch nun zu

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2