Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1924

daß hier keine besondere Höflichkeit von¬ nöten sei. „Nun, Miß, wenn ich meine Meinung sagen darf, so ist sie die, daß es sehr un¬ passend ist, zu dem Herrn zu verlangen, heute, wo er kaum seinen Vater begra¬ ben hat. „O, aber ich muß ihn sprechen,“ rief Milly flehend, „wenn auch nur für wenige Minuten. Es ist eine Angelegen¬ heit von größter Wichtigkeit — es han¬ delt sich fast um Leben und Tod. Wollen Sie ihm nicht meinen Namen melden und sagen, daß ich ihn nicht lange auf¬ halten würde? Millys bittende Stimme, ihre sanften Augen, in denen Tränen schimmerten, ihr bleiches, liebliches Antlitz erweichte des Portiers Herz und er tat etwas, wo¬ zu er sich unter anderen Umständen wohl kaum versucht gefühlt haben würde — er bot ihr sehr höflich einen Stuhl in der Halle an und entfernte sich, um seinen Herrn zu bitten, Miß Croßland eine Un¬ terredung zu gewähren. Es dauerte fünf Minuten, ehe er in Begleitung des Hausmeisters zurück¬ kehrte. Dieser hatte Befehl, das Fräulein sofort zu Herrn Newton zu führen. Wenige Sekunden später befand sich Milly in einem großen Gemach, dessen düstere Pracht einen fast erdrückenden Eindruck machte. Es schien, als ob die Leichenfeier, die am Morgen hier abge¬ halten war, ihren Schatten über das Ganze geworfen; schwere Wolken lager¬ ten auch auf der Stirn des Mannes, der in der Nähe des Kamins saß, in welchem trotz des kühlen Märztages kein Feuer brannte. Als er sich erhob, erkannte Milly nicht den Robert Newton von ihres Bru¬ ders Beschreibung in ihm. „Ich — ich bitte um Verzeihung, stammelte sie erregt, „ich wünsche Herrn Robert Newton zu sprechen“. „Der bin ich,“ war die ernste, ruhige Erwiderung. Milly geriet in große Ver¬ Die arme wirrung und zitterte an allen Gliedern. Wie wenig glich der schlanke, kaum drei¬ ßigjährige Mann, mit dem schönen, tief¬ 21 gebräunten Antlitz, dem dunklen, lockigen Haar, dem Bilde, das sie sich von Herrn Robert Newton gemacht. Noch am ver¬ gangenen Abend hatte sie davon ge¬ träumt, sich dem Herrn zu Füßen zu werfen und auf den Knien Verzeihung für ihren Bruder zu erflehen, jetzt bäumte sich ihr ganzer Stolz dagegen auf. Selbst um Pauls willen schien ihr dieses Opfer zu schwer. Ruhig nahm sie den dargebotenen Stuhl an und suchte sich zu besinnen, was sie alles hatte sagen wol¬ len, aber es war fast, als ob ihr plötzlich die Gabe der Rede versagt sei. Da entriß Herr Newton sie ihrer peinlichen Ver¬ legenheit. „Ich freue mich, Sie zu sehen, Fräu¬ lein,“ sagte er einfach; „der Name Cro߬ land war fast das letzte Wort, das meines teuren Vaters Lippen sprachen. Er schien ich Vorwürfe zu machen, daß er die Pflichten, welche seine Freundschaft für Ihren Vater ihm auferlegt, zu erfüllen unterließ, und bat mich, das Versäumte nachzuholen. Was kann ich für Sie tun, Fräulein? Bei dieser direkten Frage vergaß Milly alles außer dem Anliegen, das sie herge¬ führt; sie vergaß, daß der Mann, zu dem sie sprach, jung, schön und Besitzer großer Reichtümer sei; sie erinnerte sich nur, daß es in seiner Macht stehe, ihren hei߬ geliebten Bruder für das Leben unglück¬ lich zu machen, den einzigen Freund und natürlichen Beschützer von ihrer Seite zu reißen, und dieser Gedanke verlieh ihr Kraft, ihr schweres Bekenntnis abzu¬ legen. „Er ist noch so jung,“ rief sie unter Tränen, „und das Leben war seit dem Tode unseres armen Vaters so einsam, so reich an Entbehrungen für uns, daß er sich verleiten ließ, verbotene Unterhal¬ tungen aufzusuchen. Wenn Sie Erbar¬ men haben, wenn Sie nur Zeit geben wollen, so werden wir beide unermüdlich arbeiten, bis wir unsere Schuld abge¬ tragen haben. Paul hat mir fest ver¬ sprochen, nie wieder eine Karte anzu¬ rühren. Im Übermaß der Empfindung, über¬

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