20 „O, Vater, ich bitte dich, quäle dich nicht mit unnötigen Sorgen, sagte der Sohn beruhigend, „du hast ja stets ge¬ trachtet, das Beste zu tun, wenn auch kein Mensch frei von Fehlern und Schwächen ist. Sei zufrieden; du hast ja gestern schon mit Gott deinen Frieden abgeschlossen. Er wird dir ein milder Richter sein.“ „Und doch, mein Sohn, macht mir mein Gewissen Vorwürfe, daß ich eine Pflicht versäumt habe; ich möchte, daß du sie tatt meiner erfüllst. Du erinnerst dich, daß ich vor deiner Abreise nach Indien einem gewissen Simon Croßland 8 mit eng befreundet war?“ „Gewiß, ich erinnere mich seiner sehr wohl.“ „Nun, dieser Simon Croßland starb vor vier oder fünf Jahren insolvent, aber sein Unglück wurde durch Umstände herbeigeführt, die ihm jedermanns Teil¬ nahme sicherte. Er hat Familie hinter¬ lassen. „Und du wünschest, daß ich seine Fa¬ milie aufsuche und mich ihrer an¬ nehme?“ fragte Robert Newton, dessen vorherrschender Wunsch es war, dem sterbenden Vater alle irdischen Sorgen abzunehmen. „Ich bin mit Vergnügen bereit dazu und wenn die Croßland noch auf Erden weilen, werde ich sie ausfin¬ dig machen.“ „Sie sind nicht verschollen,“ versetzte der Sterbende; „so sehr habe ich sie doch nicht vernachlässigt. Ich nahm Paul Croßland als zweiten Clerk in mein Büro auf, aber ich suchte nie zu erfah¬ ren, ob die Familie keinen Mangel leide. Ich fürchte, auf dem Büro ist manches nicht, wie es sein sollte; mein Sohn wenn du findest, daß Paul Croßland sich etwas hat zu Schulden kommen lassen, so denke daran, wie sehr ich seinen Vater liebte, wie ich mir auf dem Totenbette Vorwürfe machte, daß ich an dem Wohl¬ ergehen des jungen Mannes kein wär¬ meres Interesse hatte und durch hin¬ reichende Unterstützung ihn nicht der Versuchung fernhielt.“ „Sei unbesorgt, Vater; ich verspreche dir, daß Paul Croßland einen milden Richter in mir finden wird, sollte er sich einer unüberlegten Handlung zu unse¬ rem Nachteil schuldig gemacht haben. „Aber Paul hat auch noch Geschwister Robert — ich glaube eine Schwester du hast reichliche Mittel, gib nicht zu, daß das unglückliche Mädchen sich durch harte Arbeit erniedrige. Ich würde selbst dafür gesorgt haben, hätte mir der Herr noch eine kurze Lebensfrist geschenkt.“ Aber der alte Herr war am Ende seiner Tage angekommen, es war ihm nicht mehr vergönnt, die früher vernach¬ lässigten Pflichten selbst zu erfüllen. Er starb am folgenden Tage und der trau¬ ernde Sohn betrachtete Paul und Mili¬ cent Croßland als ein heiliges Vermächt¬ nis seines sterbenden Vaters. 3: sein? Konnte dies das rechte Haus dieses dürftige fünfstöckige Gebäude? Wie fragend blickte Milly daran in die Höhe. Der Tod des alten Herrn Newton hatte die Ausführung ihres Planes etwas hinausgeschoben; aber an diesem Morgen hatte die Beerdigung stattge¬ funden und Milly wußte, daß der Sohn und Erbe sich am nächsten Morgen un¬ fehlbar wieder in das Geschäft begebe Sie wünschte in jedem Fall vorher eine Unterredung betreffs ihres Bruders mit ihm zu haben. Der Mut sank ihr, als sie an ihrem Ziele angekommen war; die zwölf dunk¬ len Fenster schienen so finster auf sie herabzublicken, und Milly zitterte, als sie an Pauls Schilderung des Anglo=In¬ diers dachte. Auf einer Messingplatte an der Türe stand das eine Wort: „New¬ ton“; zweimal buchstabierte sie daran und flüsterte ängstlich den bekannten Namen vor sich hin, ehe sie zu läuten wagte. Es dauerte einige Zeit, ehe der Portier der so schüchtern Einlaß Be¬ gehrenden öffnete. „Kann ich Herrn Robert Newton sprechen?“ stotterte Milly. Ihr schäbiges Kleid, ihr unsicheres Benehmen schienen dem Portier die Ansicht beizubringen,
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