Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1924

10 mir —von wem war der Brief, den du heute erhalten? Obwohl sie in bittendem Tone sprach und ihre Arme schmeichelnd um ihn ge¬ schlungen hatte—ja, obwohl sie mit den vor Aufregung geröteten Wangen und den im feuchten Glanze schimmern¬ den Augen lieblicher als je aussah, so schien doch das Herz ihres Gatten heute unempfindlich gegen diese Reize zu sein. Unsanft machte er sich von ihren Armen los und zeigte ihr eine unfreundliche Miene. „Du quälst mich mit deiner Eifersucht in einer Weise, die ich nicht mehr dulden darf,“ rief er aus, „du machst mich da¬ durch vor aller Welt lächerlich.“ „Du kannst mir nicht sagen, von wem der Brief ist, und darum willst du mit deinen ungerechten Vorwürfen mich ab¬ weisen,“ erwiderte sie in gereiztem Tone. Entweder hatte Bruno trotz der vielen Stürme seiner zweijährigen Ehe noch immer nicht gelernt, mit Gleichmut die blauen Augen seiner Gattin in Tränen zu sehen — oder wollte er um jeden Preis Frieden haben — genug, er ließ sich herab, ihr die Erklärung zu geben die er ihr einen Augenblick früher ver¬ weigert hatte. „Da in letzter Zeit wirklich ein Ge¬ heimnis zwischen mir und dir war“ sagte er, die Hand der weinenden Gattin ergreifend, „und deine Eifersucht dadurch ein wenig entschuldigt wird— will ich dir sagen, von wem alle diese Briefe kamen. Ich bin mit einem Buch¬ händler in Unterhandlungen getreten bei dem mein Werk über englische Lite¬ ratur erscheinen wird. Der Brief, den ich heute erhielt, war ebenfalls von meinem Verleger und brachte mir die erfreuliche Nachricht, daß man bereits mit dem Drucke dieses Werkes begonnen habe. Meine Arbeit ist dir wohl be¬ kannt, denn ich konnte mich nicht ent¬ halten, es dir während seines Erstehens vorzulesen — aber nicht nur die Ver¬ öffentlichung desselben sollte dir eine überraschung sein, ich hatte auch noch eine andere vorbereitet. Dir ist das Werk gewidmet und mit dem Stolze und der Freude eines Schriftstellers, der seine erste Arbeit dem Drucke übergeben hat, sehnte ich mich nach dem Augen¬ blick, wo ich vor dich tretend mich an deinen erstaunten Blicken erfreuen würde. Jetzt hast du mir und dir die Freude verdorben durch den häßlichen Argwohn, den du gegen mich hegtest, der ich einzig nur an dich dachte.“ Lydia senkte beschämt und tief er¬ rötend das schöne Haupt. Mit demütig schmeichelnden Worten bat sie ihm das Unrecht ab und ver¬ sprach, ihm in Zukunft unbedingt ver¬ trauen zu wollen. Bruno hätte das rei¬ zende Weib, das sich liebkosend an ihn chmiegte, minder zärtlich lieben müssen, um ihr lange zürnen zu können; und ein Kuß besiegelte bald den neuen Frieden zwischen den Gatten. „Aber eines mußt du mir ver¬ sprechen,“ sagte er „und das ist, mich nie mehr mit einem verletzenden Mißtrauen zu bewachen und nie mehr erfahren zu wollen, als ich dir selbst mitteilen will.“ „Ich verspreche es dir,“ sagte sie, „nie will ich mehr ängstlich nach dem forschen was du mir nicht freiwillig mitteilst habe ich ja doch die Überzeugung ge¬ wonnen, zärtlicher geliebt zu werden als ich es verdiene. Einige Zeit ging es gut; Lydia war heiter und glücklich und voll Dankbar¬ keit gegen ihren Gatten für die Wid¬ mung seines Werkes; aber noch waren nicht viele Monate seit jenem Abende vergangen, als sich von neuem die alte, böse Neigung in ihr zu regen begann. Thorn durfte nur später nach Hause kommen als gewöhnlich, verstimmt sein, oder sich wohl gar einmal mit einer — Dame lebhaft unterhalten und in Lydias Herzen brach die Flamme der Eifersucht hell auf und ihre Blicke ver¬ rieten, was sie fühlte. Aber zu einer kleinen Szene zwischen den Gatten kam es zum ersten Male wieder, als Bruno ihr seinen Entschluß

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