Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1922

als er sich das von mir mündlich bestätigen ließ, da meinte er lächelnd: „Na, Werr¬ müller, ich glaube, da hat der Zufall sie wirklich ins richtige Heilbad gebracht, denn bei ihren Zuständen ist die seelische Ein¬ wirkung etwas mit dem all unsere Kur¬ pfuscherei sich nicht messen kann. Sobald ie sich etwas erholt haben, will ich dafür orgen, daß sie ausgehen können. Das geschah denn auch bald. Nach acht Tagen konnte ich den ersten Gang tun. Erst ging es freilich nur in den Garten, denn meine zitternden Glieder mußten sich erst an das Gehen gewöhnen. Ich wußte sofort, wohin ich meinen Klapp¬ stuhl tragen sollte. Am Staket stand ein Rosenstrauch und hinter dem Rosenstrauch draußen an der Straße rann ein Brunnen Der Brunnen meiner Kindheit. Jetzt tat ich einen ganzen Nachmittag lang weiter nichts, als in die Rosen zu sehen und dem Rauschen und Plätschern des Brunnens zu lauschen. Am Abend hatte ich alles vergessen, was in den vergangenen Jahr¬ zehnten lag, ich war nun wirklich wieder daheim und war nie fortgewesen. Von da an lebte ich wie ein heim¬ licher Kaiser, die ganze Stadt gehörte mir und niemand wußte etwas davon. Ich kannte alle und alles, aber niemand kannte mich. Wie reizvoll war es, die abgerissenen Fäden aufzusuchen und zu verfolgen! Vielen Schicksalen spürte ich nach, die ich aus dem Auge verloren hatte. Kinder liefen da herum, die ich alle kannte. In ihrem Auge, in ihren Zügen, in ihrem Gang, in ihrem Gehaben fand ich ihre Eltern wieder, mit denen ich jung gewesen war. Mir kam es vor, als ob die Zeit still¬ gestanden. Das hatte sie tatsächlich, wenn ich das Städtchen rein äußerlich betrachtete. Da war noch das alte, spitzgiebelige Rathaus mit seinem kühnen Dachreiter, da war die Martersäule am Flußufer, da waren der Stadtberg, und der Krautberg mit ihren wohlbekannten Steigen und ihren Plätzen voller Geheimnisse und Erlebnisse. Wie im Traum ging ich da herum. Wie in einem jener himmlischen Träume, in denen arme, müde, gemarterte Seelen Frieden und 89 Trost finden. Welche Macht hatte gerade für mich diese Heilung vorgeschrieben? Ich dachte nicht darüber nach, ich freute mich des lieblichen Wunders und ging einher wie unter einem täglich sich erneuernden Weihnachtsbaum und fand jeden Tag etwas Neues, was ich einmal längst ge¬ kannt hatte. Wie der Sommerwind kosend über den Berg strich, wie das Städtlein so heimelig drunten im Tale lag, wie der Fluß glitzerte! Die Rosen waren abgeblüht, die vielen, wilden Rosen an den Berg¬ pfaden und schon nahmen die Hagebutten Farbe an. War ich wirklich schon so lange hier? Der Stabsarzt war jeden Tag zu¬ friedener mit mir. Wohl soll das gesund machen, so an einen Bergpfad hingesetzt zu werden, wo man seine Jugend vor sich hergehen sieht! Auf der anderen Seite der großen, langen Rosenhecke wurden Stimmen laut, ein Jung und ein Mädle pflückten Hagebutten. Als sie durch eine Lücke im Gezweig den kranken Feldgrauen auf den duftenden Bergkräutern liegen sahen, lä¬ chelten sie mir verschämt zu, pflückten dann aber ernsthaft weiter. „Kommt doch hierher!“ rief ich ihnen zu, „hier auf dieser Seite hängen sie am dichtesten." Ohne weiteres folgten die Kinder der Aufforderung. Ein derber, frischer Junge, ein behendes, anmutiges Mädchen, beide von echtem fränkischem Schlag. Wo habe ich sie doch schon gesehen? „Wie heißt ihr, Kinder?“ „Schwesinger!“ riefen sie wie aus einem Mund. „Was ist euer Vater?“ — Eine Wolke zog über ihre Gesichter: „Der Vater ist voriges Jahr gefallen. An der Somme. 7— „So, an der Somme. Da war ich auch, Kinder. Das brachte sie mir näher. „Sagt mal, wie hieß eure Mutter, als sie noch ein Mädchen war? „Anna, sagte das Mädchen. „Meine Mutter ist eine geborene Michael,“ gab der Knabe Auskunft. — „Sieh, sieh, da kenne ich euch ja. Ich bin nämlich auch aus Mechthildshausen. Hieß euer Vater nicht Armin?“ „Ja, sagten sie beide. Richtig, das waren sie, Armin Schwesinger und Anna Michael. In ihren Kindern standen sie vor mir. Und wieder packte

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