Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1922

einmal bei sich zu sehen, — und von dem Tage an war ich oft und oft sein Gast. Wir haben viele Stunden in trauter Einsamkeit mit einander verlebt. Und ich bin heute noch voll inneren Wohlseins bei dem Gedanken, daß mein häufiger Aufenthalt in seiner Wohnung vielleicht ebensoviele Lichtblicke im damaligen trost¬ losen Leben des armen Mannes bedeutete Natürlich nach seiner Art — was konnte ich kleiner Junge denn viel zur Linderung der Not des anderen beitragen! Allein ich merkte an der Behandlung, die ich bei zahlreichen Anlässen erfuhr, daß er mir für meine Anhänglichkeit ungemein dank¬ bar war. worau Mein neuer Freund lebte — ja schon die Wahl der Wohnung schließen in den dürftigsten Verhältnissen. ließ — Er scheint aber nie jemandes Gnade gesucht, auch nie sich jemand anvertraut zu haben. Ganz einfach war die Einrichtung seines Heimes. Es gab da neben einem Tische zwei Sessel, von denen einer die Waschschüssel trug. Auf einem Kleiderstocke hing die gesamte Garderobe, darunter standen die Schuhe. Und im Alkoven, der sich ans Zimmer anschloß, befand sich ein Bettgestell mit dürftigem Bettzeug, zu dessen Fußende aber eine ungestrichene Stellage, ganz vollgepfropft mit größeren und kleineren Kisten, Schachteln und Schächtelchen. Noch war auf der anderen Seite des Raumes eine separate Kiste, darinnen die Wäsche. Das habe ich im Laufe der Zeit erkundet. Alles aber was sich an Einrichtung in der Wohnung befand, war aus weichem Holz und von der einfachsten Machart ohne Schmuck, ohne das Anhaften auch nur einer Spur von Zierat. sant Das was den Mann intere ein¬ machte, was ihn mir aber, sobald ich viel mal Einblick gewonnen hatte, noch er¬ trauriger und erbarmungswürdiger scheinen ließ, waren die vielen Kisten und Schachteln mit ihrem Inhalt auf der Stellage. Sie standen dort sichtlich ge¬ ordnet, mit Nummern und Zeichen, in solcher Fülle und so knapp bei einander auf den vier Etagenbrettern und aufein¬ 73 ander geschichtet, daß kein einziger Gegen¬ stand mehr dazwischen Platz gefunden hätte. Und die Mehrzahl von ihnen war, wie ich mit der Zeit erfuhr, besetzt. Von dort aus ging ein eigentümliches Knistern durch den Raum, ein Wischen nie und Schaben, Gleiten und Fallen war es ganz ruhig und doch erklang jedes Geräusch höchst gedämpft, wie mit Fleiß unterdrückt — und ein Erdgeruch der das Zimmer durchzog, machte sich in der Nähe der Schachteln besonders deutlich fühlbar. Da drinnen waren die Zärtlinge des armen Mannes, die Stücke seiner Herde, sie waren genau so still wie er selbst und ver¬ mehrten den tieftraurigen Eindruck, den man vom ganzen Wesen des Wohnungsinhabers schon früher empfangen hatte. Wenn es dunkel war, nahm er sie heraus, zuvor aber zog er die Vorhänge vor die Fenster und zündete Licht an. Und an der Wohnungstür, die ohnehin immer gesperrt war, wurde noch einmal erprobt, ob das Schloß halte. Er stellte zunächst die Kisten, die Schachteln und Schächtelchen in dem Zimmer zerstreut auf den Boden, zwei Lichter standen auf diesem, eines im größeren Raume, das andere im Alkoven hierauf öffnete er die Deckel, und nun eine * * * * durften sie sich frei bewegen vielen Schnecken, die großen und kleinen, mit und ohne Gehäuse. Sie durften die Ställe verlassen, in denen sie Erde und Futter besaßen, im Zimmer herumwandern, ich begegnen und mit sanftem Berühren der Stielaugen Grüße tauschen, durften auch in den fremden Behältern Besuche abstatten, und oft erst nach Stunden wurden sie wieder zurückgeholt in die richtigen Hürden. Ich habe nämlich die Ueber¬ zeugung gewonnen, daß mein Schnecken¬ mann sie genau von einander unterschied immer wußte, wohin sie gehörten, ja ich glaube fast, daß sogar viele der Schnecken elber den Platz ihres ständigen Aufent¬ haltes von den anderen Stätten unter¬ scheiden lernten. Wieso das möglich war, konnte ich nicht enträtseln. Armer Mann! Der Verkehr mit den Schnecken war seine einzige, ja buch¬

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