72 Sie gab mir fast recht. Nur die allzu¬ blassen Augen in ihrer unklaren Größe und mit der geringen, gleichsam wegge¬ weinten Wölbung stimmten uns nicht zu einem solchen Vergleiche. Wenn aber der Mann die Augen schloß, dann mußte er sagten wir oft, unbedingt einen Christus¬ kopf haben. Die Kleidung, das Schuhwerk verriet noch bessere Tage. Er ging stets in dem¬ selben abgetragenen Schlußrock von schwarzer Farbe, und die Halbschuhe, die er für gewöhnlich anhatte, waren mehrfach ge¬ flickt. Aber das Tuch seiner Kleidung, Material und Machart der Schuhe standen im krassesten Widerspruche mit den jetzigen Lebensverhältnissen ihres Besitzers. So das Aeußere des Mannes. Und sein=Inneres konnte nach meinem kindlichen Erachten nichts anderes sein als der Inbegriff alles Jammers, alles Kum¬ mers, aller Sorge. War er doch so welt¬ flüchtig, so menschen=abgekehrt! So tieftraurig, wenn auch allem Anscheine nach voller Ergebung! Zaghafttraurig, um es genau zu bezeichnen, gleich als besäße er nicht einmal den Mut, das was er in Wahrheit war, auch äußerlich zu zeigen. Und wenn er sich ganz unbeachtet dachte, hat er, kommt mir vor, immer ein wenig gebebt; so grenzenlos elend war er! Kurz, der Mann, mit dem ich für einige Zeit in meiner Jugend unter einem Dache wohnte, glich samt allem, was um ihn war, einen Ozean von Kummer, einem Ort voller Oede und Langweile einem Strom ohne Flutung, ohne Insel, einer grauen Masse — er glich — das schien das furchtbarste von allem zu sein, — einem unendlich düsteren Chaos, bei dem es nie Leben, nie Aussicht auf Gestaltung und festere Formen geben konnte. Das war mein Mann; aber — es muß betont werden — im übrigen war er geistig normal. Der würde weit gefehlt haben, welcher ihn zum Narren erklärt hätte; leider, möchte ich fast sagen, denn wie viel Seelenpein würde ihm gewiß erspart geblieben sein, wenn er wirklich psychisch beschränkt — geistesumnachtet gewesen wäre! Meine Bekanntschaft mit ihm begann so: Er wohnte im Mansardenstübchen eines fünfstöckigen Hauses. Im vierten Stockwerke hatten schon seit früherer Zeit wir, meine Mutter und ich, eine bescheidene Wohnung inne. Bald nach meinem Ein¬ ziehen begann er mich zu interessieren. Er war mir sympathisch; sein schütterer, schwarzer Bart, das schlichte Haupthaar, sein blasses Gesicht voll Leid und Kummer im Aus¬ drucke, die Stille seines Benehmens vor allem der jammervolle Blick, der den lichtblauen Augen anhaftete, zog mich zu ihm hin. Es erwachte in mir sofort ein tiefes Mitgefühl für den Mann Ich trachtete ihm recht oft zu be¬ gegnen. Und immer, wenn es sich traf, — was anfangs nur schwer gelang — war ich froh, aus seinen Augen einen Blick zu erhaschen. Das war anfangs. Bald hielt ich dem Blick nicht mehr stand. Er schnitt mir zu tief in die Seele. Und doch wollte ich ihn auf mir ruhen fühlen oder wenig¬ stens ahnen. Ich erwartete den Mann; bevor er aber an mir vorüberglitt, da erfolgte stets urplötzlich das, was ich oben gesagt habe. Ich war in eine Ecke gedrückt und weinte — weinte zum Herzzerbrechen; mit verhaltenem Schluchzen zwar, damit es mein Mann nicht merkte, aber dafür umso schmerzlicher. Der Mann, der mit niemandem im Hause verkehrte, ja nicht einmal jemanden begegnen wollte, schien meine Sympathie für sich bald bemerkt zu haben, denn er schaute mich, wenn wir uns trafen, mit immer längerem Blicke an. Und eines Tages, als ich zur Mansarde hinaufschlich, weil ich aus der Erfahrung wußte, daß bald seine Ausgehzeit käme, öffnete sich die Tür, und er winkte mich zu sich hinein Wie mir damals das Herz pochte, als ich Folge leistete! Gleich als beträte ich ein noch nie geschautes Heiligtum. Er hieß mich setzen — auch nur — stumm mit dem Blicke und sprach später zu mir freundlich ein paar herkömm¬ liche Worte. Damals war ich nicht lang bei ihm. Beim Abschied aber bekannte er, daß es ihn freuen würde, mich wieder
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