Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1922

71 TSECTT/8 CT X8 SS Der Schneckenmann. von Hofrat Dr. Pilshofer. Dazu die Gestalt, der Gang, die Das war ein trauriger Mann! Haltung; der gezogene, schüttere Bart Das Traurigste, was mir je im Leben — im weichfaltigen Gesicht. begegnet ist. Wenn man ihn sah und an Mein Mann war von aufrechtem sein Metier dachte, wenn man seine rührende, Wuchs und übermittelgroß. Er ging nicht, — bei weibliche Sanftmut gewahr wurde sondern er huschte, glitt. Ein Geräusch Gott, es kostete Ueberwindung, um nicht wie von Aufklappen der Schuhe oder von auf der Stelle auszubrechen in einen flüchtigem Straucheln war bei ihm nie Strom heißer, mitleidsvoller Tränen. Mir vernehmbar. Er glitt dahin wie verstohlen, wenigstens erging es so — ich war freilich wie auf schlechter Tat und mied auch aufs damals noch Bube; — aber auch heute, ängstlichste jedes Zusammentreffen mit den da seit jener Zeit Jahre verflossen sind, übrigen Hausbewohnern. Und doch kann überkommt mich beim Gedenken des Mannes ich nicht glauben, daß er je im Leben eine tiefe, tiefe Rührung und ich möchte etwas Böses begangen hatte, daß er über¬ wieder am liebsten wie damals weinen haupt imstande gewesen wäre, einem — Ich, der weinen zum Herzzerreißen. Menschen auch nur ein Haar zu krümmen. Mann, der ich seitdem geworden bin! Er erschien mir als die gutmütigste, harm¬ Macht das einzig nur der Eindruck der nur zu loseste Seele von der Welt so lebhaft bewahrten Jugenderinnerung? weich — viel, viel zu weich. — Zu weich Oft frage ich mich darnach. zu weiblich! und Wie war mein Mann äußerlich? Wenn er unterwegs irgendwo im so Zunächst seine Augen, die stets Hause Schritte hörte, schrak er zusammen, kummervoll blickten. Sie waren wie schwach¬ machte, wenn möglich, schnell noch einmal gewölbte Platten, unnatürlich groß und kehrt und verschwand in seiner Wohnung, ausgesprochen wasserblau. Naß sah ich sie bis nichts mehr zu hören war. Oder nie, und doch schrieen sie förmlich nach flüchtete auch wohl in einen Winkel. Tränen. Ich war auch fest davon über¬ Ich habe ihn so oft abgelauscht den war gleichfalls zeugt, daß sie einmal recht, recht viel armen, stillen Mann — geweint hatten, und schloß dies aus den in eine Ecke gedrückt, wo ich für ihn - Falten unterhalb derselben sowie einem weinte. gewissen Blaßrot der Ränder. Ja, ich war Sein Gang, seine Bewegungen hatten in meiner Kindlichkeit davon überzeugt, daß etwas ungemein Geschmeidiges. Er mußte sie solang geweint hatten, bis sie schließlich eine vornehme Erziehung genossen haben: keine Tränen mehr besaßen. darauf deuteten auch die feinen Hände und der geübte, aristokratisch schmale Fuß hin. Arme Augen! Bart und Haupthaar war kohlschwarz, Ich sprach mir in meiner Einfalt das Gesicht totenbleich. Ich verlieh in auch vor, daß sie nur von den zahlreichen meiner Grübelei Christo dem Herrn dieses Tränen im Laufe der Zeit so unnatürlich Haar, diesen Bart, diese Züge. Den groß, so plattenartig flach und so aus¬ Gedanken besprach ich mit meiner Mutter. gesprochen verwaschenblau geworden sind.

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