Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1920

kriecht unruhig umher, wird am Halse runzlig und beginnt, an den zu diesem Zwecke ihr hingelegten Birkenreisern sich einzuspinnen. Dies dauert drei bis vier Tage. Der ganze Vorgang ist ein kleines Kunstwerk, und es bereitet dem Beobachter eine nicht geringe Genugtuung, wahrzu¬ nehmen, welche künstlerischen Eigenschaften die Seidenraupe bei dieser Arbeit ent¬ faltet. Die kleine Künstlerin klebt zunächst zwei feine Tröpfchen an und haspelt nun, indem sie den Kopf hin= und herbewegt, aus zwei langen, gewundenen Röhrchen, welche in einem am Munde oder Seiten¬ rüssel befindlichen Wärzchen in ein kleines Loch münden, zwei feine, anfangs durch¬ ichtig helle Fädchen, die sich sogleich an¬ einanderleimen, dann aber alle Klebrig¬ keit verlieren. Anfangs spinnt sie nur eine Lockere, unordentliche Hülle um sich herum, dann aber ein festes, eiförmiges Behältnis, das aus einem 700 bis 900 Fuß langen Faden besteht und in wel¬ chem sie sich erst nach vier bis fünf Tagen verpuppt. Darnach beginnt die Arbeit der Men¬ schenhände. Von den weiß, fleischfarbig oder gelb aussehenden Gespinsten, den be¬ kannten Seidenkokons werden die besten in der beabsichtigten Anzahl zur Fortpflan¬ zung ausgesucht und die übrigen mit Schwefel¬ dämpfen, Terpentinöl oder Kampfer be¬ handelt, oder in Oefen geröstet, um die Puppen zu töten. Die Gewinnung der Seide geschieht sodann in der folgenden Weise. Um den klebrigen Gummiüberzug, mit dem das Gespinst der Raupe umgeben ist und auch die Farbe der Seide zu entfernen, wirft man die Kokons in heißes Wasser, in dem sie mit weichen Ruten solange geschlagen werden, bis die äußere unordentliche Hülle sich von den Kokon loslöst und der Faden des langen Ge¬ pinstes frei wird. Die jetzt vorsichtig herausgenommenen Kokons werden in lau¬ warmes Wasser gelegt und auf einer 197 Winde in der Weise abgehaspelt, daß je 4 bis 24 Fäden zu einem Seidenfaden vereinigt werden, dessen gleichmäßige Schönheit davon abhängt, daß der Haspel recht schnell und ununterbrochen umläuft. Die Seide wird dann mit kaltem Wasser abgespült, an einem schattigen Orte ge¬ trocknet, auf Spulen gebracht und ge¬ zwirnt und geht schließlich in die Hände derjenigen über, die sie weiter zu Zeug, Spitzen, Bändern usw. verarbeiten. Aus den äußeren Kokonhüllen sowie den Ko¬ kons, deren Schmetterlinge ausgeschlüpft sind und deren Seide nicht abgewickelt werden kann, wird die Florettseide be¬ reitet. In etwa 14 bis 21 Tagen, vom An¬ ang des Spinnens gerechnet, sprengt der Seidenraupenschmetterling seine Puppen¬ hülle und bohrt sich dann aus dem Kokon, welcher an der Seite, wo der Kopf liegt, weit dünner ist, heraus. Die jungen Schmetterlinge, deren kleinere, mit brei¬ teren Fühlhörnern und beständig zittern¬ den Flügeln die Männchen sind, führen nur ein kurzes Dasein von wenigen Tagen, während dessen sie weder fressen noch trinken, sondern nur langsam hin= und herkriechen, sich möglichst noch an dem¬ elben Tage begatten und dann bald sterben, nachdem das Weibchen seine 200—500 Eier abgesetzt hat. Die ganze Seidenzucht rundet sich auf einen Zeitraum von 28 bis 48 Tagen ab. Von 120 Maulbeerbäumen kann man ährlich soviele Raupen füttern, daß man 12 Pfund Seide gewinnt, deren Erlös bei ihrem hohen Preis und der geringen Mühe für den Seidenraupenzüchter als eine hübsche Nebeneinnahme betrachtet werden darf. Im Durchschnitt rechnet man 6 bis 10 Pfund Kokons auf ein Pfund Seide, und zu diesen gehören 2 1 Lot Eier. Hiernach würden zu tausend Pfund Kokons ungefähr 600 Millionen Raupen erforderlich sein, die dann etwa 100 Pfund rohe Seide liefern.

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