Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1919

86 von ihrem Gedanken abgebracht habe ich auch nicht. Und nun rate mir, was ich tun soll!“ Fritz zuckte mit den Achseln. „Ich fürchte, lieber Junge, da hilft kein Rat. Ich habe immer die Klarheit und Sicherheit und Vernunft deiner Frau bewundert. Nun sehe ich, daß diese be¬ wunderten Eigenschaften auch ihre un¬ angenehme Seite haben können.“ „Aber es muß doch einen Ausweg geben?“ „Ich fürchte: nein. Natürlich, du bist nicht in der Verfassung, ruhigzu¬ zuhören, aber ich als Unbeteiligter sehe die Geschichte in ihrer ganzen trostlosen Klarheit. Du kannst den andern fordern, kannst ihn über den Haufen schießen, wenn das Glück dir hold ist; gewonnen hast du damit nichts. Der andere, der ist überhaupt nur Nebensache, ebenso die ganze Scheidungssache. Das Wichtigste und Entscheidende ist der Umstand, daß du deine Frau verloren hast. Und das bedeutet, daß alles vergeblich ist, so¬ bald sie einmal diese Tatsache sich be¬ wußt geworden ist, was jetzt der Fall zu sein scheint. Der alte Weise hat doch recht, lie¬ ber Karl. Dein Schicksal ist ein recht alltägliches. Die Frauen erobern, das verstehen viele Männer, alle möchte ich beinahe sagen, wenn sie sich nur ein wenig Mühe geben. Die Frauen dau¬ ernd an sich zu fesseln, das Eroberte zu behaupten, diese Kunst ist nur wenigen zu eigen. In vielen Fällen kommt das nicht zur Erscheinung, weil beide Eheteile sich nicht klar darüber werden, daß zwischen ihnen eigentlich alles aus ist. Das merkt man meistens erst dann, wenn ein Dritter ins Spiel kommt, wie in deinem Fall. Daß Frau Ella gleich aufs ganze geht, daß sie den Zwiespalt löst, ehe er begonnen hat, das macht ihrem Verstande alle Ehre, ist gewiß selten, wie ja Verstand überhaupt nicht die starke Seite des schönen Geschlechtes ist, aber es ist doh nur eine neue Tonart des alten ewigen Liedes. Ich kann dir nur einen Rat geben: Schicke dich drein, Junge. Es gibt noch andere Weiber auf der Welt. Natürlich, da läuft er fort, als hätte ich ihn Gott weiß wie beleidigt, und unsere Freundschaft hat wahr¬ scheinlich ein unheilbares Loch erhalten. Einen einzigen Menschen habe ich um seine Ehe beneidet, und das ist der Schluß. Also hatte ich doch recht, wenn ich mich nach dem Bibelworte richtete: „Ledig sein ist besser!“ Während dieser Betrachtung zündete der Rechtsanwalt sich eine neue Zigarre an und vertiefte sich wieder in seine Akten. Aber im Laufe der nächsten Tage kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem Freunde zurück. Die Sache ging ihm doch näher, als er ge¬ dacht hatte. Und als er am Schlusse der Woche von Karl die briefliche Auf¬ forderung erhielt, ihn im Scheidungs¬ prozeß zu vertreten, seufzte er auf. Lieber wäre es ihm gewesen, er hätte diesmal nicht recht behalten. Sonderbarerweise war Karl ganz und gar nicht aufgeregt und niederge¬ drückt, als er in den nächsten Tagen den Rechtsanwalt besuchte — um mit ihm das Nähere behufs Scheidung zu be¬ sprechen. Im Gegenteil, seine Stimmung war förmlich übermütig, so, daß der Rechtsanwalt sogar den Verdacht hegte, sein Freund sei nicht ganz nüchtern. Aber auch dies traf nicht zu. Karl sprach seelenruhig, dabei aber durchaus logisch und kaltblütig über die Sache. „Ich habe eingesehen, daß Ella recht hat; da sie einen andern liebt, muß sie von mir gehen, um eine an¬ ständige Frau zu bleiben. Sie ist zu ihrer Mutter gezogen, wo sie bis zum Ende des Prozesses, bzw. bis zu ihrer neuerlichen Vermählung bleiben wird.“ Dr. Reiser riß verwundert die Augen auf. „Und darüber sprichst du so ruhig?“ „Sie hat mich eben überzeugt.“ In Karls Augen zog ein verdächtiges Leuchten auf, geradeso, als lache er

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