84 Hie und da blieb er an einem der strahlenden Schaufenster stehen, sich all das Köstliche, Schimmernde besehend. Aber er empfand jetzt nach all diesem kein Verlangen mehr. Ein Sehnen höher¬ rer Art erfüllte sein ganzes Herz. So ging er weiter und weiter durch all die vielen Gassen und Straßen. Das Ge¬ triebe verlor sich sachte, das Schneien hatte aufgehört. Am nächtigen Firma¬ mente erstrahlte da und dort ein Stern. Die Auslagen waren längst geschlossen und noch immer scheitt Barner sinnend durch die still und leer gewordenen Gassen. Da und dort schimmerten Weihnachtslichter durch die Fenster der Häuser, Kinde jubel Kindergesang drang gedämpft auf die Steaße und fast war es ihm, als brächte ihm die rauhe Luft einen Hauch von Tannenduft und Honig¬ uchen entgegen. Ein nie gekanntes Weh erfüllte ihn mehr und mehr. Wie so verlassen fühlte er sich! Da dachte er an Gott. .... Ist denn überhaupt ein Gott?! Da schlug Christmettläuten an sein Ohr. Er stand vor einer Kirche draußen in der Vorstadt — in jener Vorstadt, in der er als Schreiber bei einem Ad¬ vokaten bedienstet war. Selisames be¬ gab sich heute mit ihm: All die Jahre war ihm nie auch nur der Gedanke ge¬ kommen, eine Kirche zu besuchen und jetzt fühlte er jählings einen unwider¬ tehlichen Drang hiezu. Er trat ein. Strahlender, blendender Lichterglanz er¬ füllte das ganze Kirchenschiff. Weihe¬ voller Chorgesang ertönte und ein mei¬ sterhafter Orgelspieler entlockte dem herrlichen Instrumente Klänge voll hehrer, urmächtiger Gewalt und mysti¬ cher Schöne, dann wieder voll rühren¬ der, zauberhafter Weichheit und Innig¬ keit. Nun kam ein wundersames Pia¬ nissimo. Die Singstimmen schwiegen ein Weilchen. Fritz Barners Augen glänz¬ ten, wie im Fieber. Ihm war, als söge sein friedloses Gemüt die reiche Lichtflut, die magischen Klänge gierig in sich ein. Weihrauchwolken erhoben sich, schwebten duftreich und schimmernd höher und höher. Was war das, was da leise und jubelnd in seinem Herzen rief: „Es ist ein Gott, es ist ein Gott!“ Und was war das — Allmäch¬ tiger, was war das, was er an einer Stelle, wo Weihrauchgewölk und Ker¬ zenglanz ganz seltsam eigen in Form und Schimmer waren, zu erblicken meinte.? Er starrte hin, wie ent¬ geistert, ein Lächeln, das nicht von die¬ — er Welt schien, lag auf seinen Zügen doch da quollen aus seinen Augen Trä¬ nen, erst sachte, dann heiß, maßlos ma߬ los übermächtig, unaufhaltsam. „Mut¬ ter!“ Ein halberstickter Ausruf. ... Unter den Andächtigen entstand eine plötzliche Bewegung. Ein Mann— unser Barner — war ohnmächtig geworden. Man bemühte sich um ihn. Eben wollte man ihn hinaustragen — da schlug er die Augen auf. Unter den teilnehmend über ihn geneigten Gesichteen befand sich auch eines, dessen Anblick den Aus¬ druck freudigen Erschreckens auf seinen tränenüberströmten, bleichen Zügen her¬ vorrief. Blaue Augen von einem Glanze, von einer Tiefe und Wärme der Beseelung, wie man sie wohl nur selten findet, ein leicht gerötetes ernstes Antlitz, voll echt mädchenhaften Lieb¬ reizes, eine weiche Stimme, die leise Barners Namen rief — all dies ließ ein so lange verhärtet gewesenes, nun durch das Heil der Weihnacht geläuter¬ tes Herz tiefinnerst erschauern in reinster Freude. Er sah Luise vor sich, die ein¬ zige Tochter seines jetzgen Prinzipals, die er wegen ihres herb jungfräulichen Wesens bisher nur mit einer Art Scheu betrachtet hatte. — Neben ihr stand ihre Mutter in der Kirche, eine schlichte Frau mit unverkennbarer ehrlicher Her¬ zensgüte in den Mienen. Und so macht¬ voll, wie das Lichtmeer der vielen, vielen Kerzen vorhin plötzlich auf sein Inneres eingewirkt hatt, so klar war es ihm jetzt, daß ihm dieses Wesen seit dem ersten Momente des Erblickens teuer war — unendlich teuer, als ihm
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