Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

dem zerschossenen Kirchturm einer fran¬ zösischen Ortschaft sitzt, zum besonderen, freilich immer verfehlten Ziel erkoren, wie wir selbst an einigen Pfiffen merken und führt uns zu einem Feldwebel, der uns in seinem Unterstand sehr freund¬ lich aufnimmt. Wir sind mitten in der Höhlenstadt, in dem Gewirr von Gängen, die in den weißen Ton eingewühlt sind. Welch phantastischer Gedanke, daß man in solchen Gängen, nur mit einigen Um¬ wegen, vom Elsaß bis nach Flandern gehen könnte, manchmal auf Rufweite von den Feinden entfernt, die ebenso unsicht¬ bar und reglos in ihren Löchern liegen. Wir winden uns durch die Kreuz= und Quergänge, sehn die Reservestellung, die zweite, die vorgeschobene dritte, vor der die Stacheldrähte blinken. Spanische Rei¬ ter, die bei einem feindlichen Angriff den Graben sperren, stehen bereit, kleine Feldkanonen und Maschinengewehre dek¬ ken die Flanken. Wir sahen Minengänge und Horchstollen und all den seltsamen Apparat dieses unterirdischen „Krieges. Durch die Löcher in den Schutzschilden zeigt uns unser Führer die feindlichen Stellungen. Wie kurze Peitschenschläge pfeift es durch die Luft, giftig wütend schlägt es an die Schutzschilde, ohne er¬ sichtlichen Grund hebt drüben eine kleine Schießerei an, die die unsern nicht er¬ widern: die Franzosen schössen manchmal aus reiner Ungeduld oder Nervosität oder Langeweile, besonders gegen Abend. „Kommt ein Vögerl geflogen“ bemerkte ein andrer und sah zum strahlend schönen Abendhimmel empor. Auf der Straße drüben, die von unsern Stellungen ge¬ kreuzt wurde, stiegen die weißen Rauch¬ säulen auf und eine Viertelstunde lang scholl das Schwirren und Wimmern über uns. Man wunderte sich ein wenig: die Zeit der üblichen Kanonade war noch nicht da. Hatten die Pressemänner, die kurz vor uns durch die Gräben krochen. die Aufmerksamkeit der kaum zweihun¬ dert Meter entfernten feindlichen Posten erregt? Die Soldaten dichteten es in gutmütig=freundlichem Spaß den Zivi¬ 393 listen an. Jedenfalls wurde die Presse zum Rückzug gezwungen. Die kleine Epi¬ sode wirkte nur als angenehme Abwechs¬ lung. Die Leute sehnten sich nach einem Sturm, das Stilliegen behagte keinem. Sie hatten ein kalaurisch=galgenhumori¬ stisches Lied: „Das Buddeln ist des Krie¬ gers Lust .. ., mancherlei plastische und zeichnerische Kunstwerke, die Sorgfalt der Höhlenbauten und ihrer Einrichtung ver¬ rieten die Muße langer Stunden. Sie hatten Kaninchenställe mit der Aufschrift „Zoologischer Garten“ und an einer Stelle, kaum drei Kilometer vor Reims sogar einen Gondelteich, auf dem ein selbstgezimmerter Kahn schwamm. Und überall die gleiche unvergleichliche Stim¬ mung: ein wunderlich vergnügtes, fast jeden bummelwitziges Treiben, das Augenblick bereit war, in strengste Pflicht¬ leistung umzuschlagen; zwischen äußerster Bereitschaft und Sorgfalt ein kamerad¬ schaftliches Herumstehen, Scherzen und Plaudern; eine immer wieder hin¬ reißende, alle innig verbindende, gött¬ lich gelassene Sorglosigkeit auf dem si¬ cheren tiefen Grunde selbstverständlicher, bedingungsloser Pflichterfüllung. Man fragte uns — Mannschaften und Offi¬ eifrig nach der Heimat wie nach ziere einem Wunderland, von dem man träumt und um dessentwillen man alles leidet mit einem Ton, der unbedingt gute Nach¬ richt, Schönes und Erbauliches verlangte. Man würde die Leute tief und häßlich es schmerzen, wenn man verriete, daß viele Nörgler, Jammerlappen, alte Wei¬ ber beiderlei Geschlechts daheim gibt. Sie wollen und müssen das Bewußtsein haben: das Vaterland sieht mit Ver¬ trauen auf uns. Denn um des Vater¬ landes und seines Vertrauens willen haben sie selbst so starken Glauben. „Die Franzosen können unmöglich durchbrechen. Sie schicken schon ihre Leute betrunken zum Angriff vor. Wenn wir erst vorgehn, dann laufen sie. Laßt nur erst das Früh¬ jahr kommen! Und Hindenburg im Osten! Und die U=Boote in der Nord¬ see!“ Wörtlich sagte einer von den ver¬

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